ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Junge, hast du wirklich. Ich sach dir was. Du fährst das Ding da in die Garage und dann kommst du zu mir ins Büro und wir genehmigen uns ’nen Bourbon zum Wochenendauftakt.«
Will dachte darüber nach. Etwas zu trinken konnte er jetzt vertragen, obwohl ihm ein kaltes Bier auf jeden Fall lieber wäre als etwas Hochprozentiges. Und mit einem leutseligen Kumpel wie Joe Bob zu plaudern wäre zwar nett, aber er konnte es nicht riskieren.
»Ich würde ja gerne, J. B., aber ich muss los, sobald ich Feierabend habe. Meine Mutter hat es böse erwischt und ich fahre übers Wochenende nach Hause in den Norden.«
»Das ist wirklich schade. Sie ist doch nicht ernstlich krank, oder?«
»Ja und nein. Sie hat es mit dem Herzen. Manchmal macht es Probleme und dann wieder nicht. In letzter Zeit macht es Probleme.«
Will verabscheute es, wie leicht ihm die Lügen über die Lippen kamen, aber er hatte diese Geschichte so gut einstudiert, er glaubte sie fast selbst.
»Na gut, dann mach dich mal auf’n Weg. Ich hoffe, sie erholt sich wieder. Wenn es was gibt, was ich für dich tun kann, ich meine, wenn du zusätzlichen Urlaub brauchst, um bei ihr zu sein oder so was, lass es mich einfach wissen.«
»Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt, aber danke für das Angebot.«
Joe Bobs ehrlich gemeinte Sorge rührte ihn und deswegen fühlte er sich nur noch mieser, weil er ihn angelogen hatte. Aber er konnte auf keinen Fall eine halbe Stunde oder sogar noch länger mit ihm im Vorarbeiterbüro herumsitzen.
Joe Bob hatte da ein Telefon.
Will fuhr den Traktor in die Garage und stellte ihn ab, dann machte er sich auf den Weg zum Parkplatz.
Auf dem Heimweg, gemächlich die Conway Street entlangfahrend, dachte Will über den Tag nach. Es war bedauerlich, dass er sie wieder anlügen musste, als er ihr erzählt hatte, er würde erneut Der Fremde lesen. Er durfte sie nicht wissen lassen, was er da wirklich las. Sie würde zu viele Fragen stellen. Fragen, die er nicht beantworten konnte.
Es war ziemlich dämlich von ihm gewesen, es mit zur Arbeit zu bringen. Fast so, als wollte er, dass sie es sah, als wollte er, dass sie Fragen stellte. Drängte ihn sein Unterbewusstsein etwa absichtlich dazu, seine Vergangenheit offenzulegen, um wieder aus dem Quark zu kommen und etwas zu unternehmen, statt nur Jahr um Jahr hier zu verplempern?
Vielleicht. Aber egal, was sein Unterbewusstsein wollte, Will wusste, er war noch nicht bereit wieder aufzutauchen. Er musste sich zuerst eine Strategie überlegen, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte zurückzugehen.
Vielleicht würde er es auch nie tun. Es gefiel ihm hier in North Carolina. Er hatte sich eingelebt, und das war nicht zuletzt Lisl zu verdanken. Bei ihr fühlte er sich gut. Sie hatte aber auch ihre Macken, wobei das Gravierendste wohl ihr Mangel an Selbstwertgefühl war. Sie war intelligent, freundlich, ungekünstelt und kein bisschen arrogant, was heutzutage auf dem Campus des »neuen Harvards des Südens« alles andere als selbstverständlich war. Sie hatte Will mühelos davon überzeugt, wie begabt und wie nett sie war. Warum erkannte sie das selbst nicht?
Jemand hatte ihr ein völlig verkorkstes Bild von sich vermittelt. Der Schuldige, der sich als erster anbot, war natürlich ihr Exmann, aber Will spürte, dass da noch etwas anderes war. Was für Menschen waren ihre Eltern? Wie war sie aufgewachsen? Hatten sie sie einfach vor dem Fernseher geparkt? Wie so vielen Menschen, denen er heutzutage begegnete, schienen auch Lisl keinerlei Werte vermittelt worden zu sein. Sie war brillant, aber sie hatte kein Ziel. Sie war unvollständig, verletzbar, und ihr fehlte etwas ganz Wichtiges: jemand, den sie lieben konnte. Mit dem richtigen Jemand konnte für sie alles gut werden. Andererseits konnte die falsche Person sie auch zerstören. Will wusste, er war eine dieser falschen Personen.
Er hätte ihr gern geholfen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Sollte er sie näher an sich heranlassen oder sie wegstoßen? Er wollte sich ihr anvertrauen, so wie sie sich ihm anvertraut hatte, wusste aber gleichzeitig, dass er nie wieder wirklich jemandem vertrauen könnte.
III
1.
Lisl parkte ihr Auto auf dem für sie reservierten Parkplatz und stieg aus. Die Sonne war schon fast untergegangen, aber jetzt, Anfang September, war es immer noch warm und durch die Luftfeuchtigkeit auch etwas dunstig. Diesig genug, um die verschiedenen Grüntöne an den Bäumen und die grellen Farbflecken der
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