ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Chrysanthemen in den Beeten abzumildern und ineinander verschwimmen zu lassen. Nur die nicht mehr ganz taufrischen Reihenhauswohnungen sorgten dafür, dass man die Szenerie nicht für die Traumvision eines Impressionisten hielt.
Brookside Gardens war eine Siedlung aus zweigeschossigen Backsteinbauten, in denen vor allem junge Ehepaare wohnten, viele davon mit kleinen Kindern. Sonntagnachmittags konnte es hier richtig laut werden. Aber Brookside bot alles, was Lisl brauchte. Ihre 2½-Zimmer-Wohnung war sicher und bequem, hatte genau die richtige Größe und strapazierte ihr Bankkonto nicht zu sehr. Was wollte man mehr?
Im Augenblick? Vielleicht etwas Gesellschaft. Wenn Will doch in der Nähe wohnen würde, statt irgendwo draußen auf dem Land. Sie hatte gerade das Bedürfnis, irgendwo zu klopfen, sich in einen Sessel fallen zu lassen und bei einem Glas Wein über nichts Bestimmtes zu plaudern. Doch außer Will kannte sie niemanden gut genug, um das zu tun.
Das war einer der Nachteile von Brookside. Sie hatte hier keine Freunde. Sie passte nicht zu den Jungvermählten, die hier wohnten. Sicher, sie wurde zu ihren Partys und den Grillfesten am Wochenende eingeladen, und sie trank und plauderte und lachte mit ihnen, aber sie war dabei nie wirklich entspannt, fühlte sich nie wirklich dazugehörig.
Aber das spielte für heute Abend auch überhaupt keine Rolle. Sie musste sich für Dr. Rogers Semestereingangsparty in Schale werfen.
In den alten Zeiten hätte man so etwas wohl einen Fakultätstee genannt. Heutzutage war es eine Cocktailparty. Eigentlich wollte Lisl gar nicht da hin. Sie würde kaum jemanden kennen. Schließlich war das die Psycho-Fakultät, nicht Mathe. Sie und Ev hatten nur bei ein paar statistischen Auswertungen während der Semesterferien ausgeholfen. Keine große Sache. Und eigentlich auch kein Grund, sie zu der Party einzuladen. Natürlich wäre es viel leichter, wenn sie mit Ev dorthin ginge. Dann hätte sie wenigstens jemand, mit dem sie sich unterhalten konnte. Aber Ev ging nie auf Partys.
Lisl war eigentlich auch nicht der Typ dafür. Sie selbst sah sich als langweilige, öde Gesprächspartnerin, der nichts mehr einfiel, sobald man das Wetter und Allgemeinplätze über die neuen Studenten abgehakt hatte. Dann folgten meist lange, unangenehme Gesprächspausen und sie und derjenige, mit dem sie zusammenstand, drifteten langsam in verschiedene Räume davon.
Merkwürdigerweise ging ihr bei Will nie der Gesprächsstoff aus.
Aber Will würde nicht da sein, also brauchte sie sich deswegen keine Hoffnungen zu machen. Wenn der heutige Abend nach dem üblichen Muster verlief, dann würde sie irgendwann allein vor der Bücherwand stehen, an einem Plastikbecher mit einem zu trockenen Chablis nippen, verstohlene Blicke auf ihre Uhr werfen und so tun, als hätte sie ein Interesse daran, welche Titel und welche Autoren in den Regalen standen. Meist war die Auswahl so langweilig wie sie sich fühlte.
Der letzte Sommer war außergewöhnlich einsam gewesen. Sie war sechs Tage die Woche zwischen ihrer Wohnung und ihrem Büro gependelt, ohne jedwede Abwechslung dazwischen. Nach dem langen einsamen Labor-Day-Wochenende hatte sie beschlossen, sie müsse sich mal … ja was? Austoben? Austoben war nun gar nicht ihr Ding. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie das überhaupt wollte. Gemütlich mit anderen Menschen zusammen sein war eher ihre Art. Das würde ihr vollauf genügen.
Also hatte die alte Lisl sich entschlossen, eine andere Lisl zu werden, eine neue, bessere Lisl, die unter Leute ging. Sie würde keine Einladung zu einem gesellschaftlichen Ereignis mehr ablehnen, egal wie furchtbar das in ihren Augen zu werden drohte.
Deswegen hatte sie Calvin Rogers Einladung angenommen.
Ihr dringlichstes Problem war jetzt, was sie anziehen sollte. Bei diesen Veranstaltungen herrschte zwar keine Kleiderordnung, aber Lisl wollte auch nicht zu leger daherkommen. Der überwiegende Teil ihrer bequemen Kleidung schied damit aus, und ihre guten Sachen passten nicht mehr. Sie hatte über die Sommermonate noch etwas zugelegt und brachte jetzt fünfundsiebzig Kilogramm auf die Waage.
Du bist eine fette Kuh, dachte sie und sah sich im Spiegel an.
Sie sah selten in den Spiegel. Wozu auch? Um zu sehen, wie sie aussah? Daran war sie nicht sonderlich interessiert. Seit der Scheidung hatte ihre Aufmerksamkeit nur noch ihrer Arbeit gegolten, alles andere war nachrangig. Und an Männern hatte sie schon gar kein Interesse. Nicht
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