ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
eigenen Fakultät fühlte sie sich noch mehr fehl am Platz als sonst. Sie sah sich um und beneidete all diese Leute um ihre Konversationsgabe. Niemand schien sich damit schwerzutun. Es sah bei ihnen allen so leicht aus. Warum konnte sie nicht bei einer der Gruppen stehen bleiben, eine Zeit lang dem Gespräch zuhören und sich dann einfach beteiligen?
Weil mir das nicht gegeben ist.
Sie trat auf den kleinen gefliesten Innenhof hinaus. Nachdem sie sich die paar von Cals Rosen angesehen hatte, die nicht von Ungeziefer zerfressen worden waren, drehte sie sich um, um wieder hineinzugehen.
Und bemerkte plötzlich, dass der dunkelhäutige junge Mann neben ihr stand.
»Hallo«, sagte er. Seine Stimme war samtig, tief, aber weich und melodisch. Die Zähne unter dem dunklen Schnurrbart waren strahlend weiß, die Augen leuchteten fast im Dunkeln. »Ich höre, Sie kommen von der mathematischen Fakultät.«
So einfach. So perfekt.
Smalltalk. Rafe – so stellte er sich selbst vor – schien ein Meister darin zu sein. Er wirkte entspannt und verströmte Selbstbewusstsein und gab ihr das Gefühl, kein Thema sei belanglos, solange er sich darüber ausließ. Sie standen eine Zeit lang nebeneinander, dann setzen sie sich auf die Redwood-Bank an den Gartentisch. Rafe hatte ein Menge Fragen über das Campusleben an der Darnell Universität, vor allem, was Doktoranden anging. Lisl konnte viele davon beantworten, weil sie ihren eigenen Doktor hier gemacht hatte.
Er hörte zu. Er hörte wirklich zu. Alles, was Lisl zu sagen hatte, ihre Ansichten, ihre Meinungen, alles schien ihm wichtig zu sein. Ein Teil von ihr war angespannt, wartete auf die Abfertigung, darauf, dass er sich lächelnd entschuldigte und dann ein anderes Gespräch suchte, nachdem er von ihr erfahren hatte, was er wissen wollte. Aber Rafe blieb neben ihr sitzen, stellte weitere Fragen, hielt es bei ihr aus und brachte ihr neuen Wein, wenn er seinen eigenen, mit Wasser gestreckten, Bourbon nachfüllte. Er ging immer mal wieder weg, kam aber jedes Mal nach kurzer Zeit zurück.
Obwohl er viel zu jung für sie war – gerade mal dreiundzwanzig – fand Lisl ihn sehr anregend. Er verströmte Männlichkeit fast wie einen Geruch, ein Pheromon. Was es auch war, es ließ sich nicht leugnen, dass es bei ihr wirkte. Die Sache würde niemals zu etwas führen, aber es war erregend, nur in seiner Gegenwart zu sein. Er rettete für sie die Party.
Den ganzen Abend über bemerkte sie die neugierigen Blicke der anderen Frauen, die immer wieder in den Innenhof kamen und dann wieder gingen. Sie konnte fast ihre Gedanken lesen: Was machte der interessanteste Mann der Party bei dieser Schabracke, die mindestens zehn Jahre älter war als er?
Gute Frage.
Müßig wühlte sie in der Schüssel mit den Salzbrezeln vor sich auf dem Gartentisch und wählte eine aus, um sie zu essen.
»Machen Sie das immer?«, fragte Rafe. Sein Blick wanderte von der Brezel in ihrer Hand zu ihren Augen und wieder zurück.
»Was denn?«
»Nehmen sie immer die kaputten?«
Lisl sah auf die Brezel. Nun, nur eine halbe Brezel – eine Schlinge und eine halbe. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie sich den ganzen Abend über die zerbrochenen Brezeln herausgesucht hatte. Sie suchte immer die kaputten Brezeln heraus.
»Ja, ich glaube schon. Ist das wichtig?«
Er lächelte. Ein herzliches Lächeln, das die weißen, strahlenden Zähne zur Geltung brachte.
»Könnte sein. Wichtig ist auf jeden Fall der Grund, warum Sie das tun.«
»Ich schätze, ich will nicht, dass die verkommen. Jeder greift sich die ganzen und lässt die zerbrochenen übrig. Sie sind wie alte Jungfern. Wenn der Abend vorbei ist, landen sie wahrscheinlich im Müll. Also nehme ich sie.«
»Mit anderen Worten, Sie leben von dem, was die anderen übrig lassen.«
»Leben ist zu viel gesagt, aber …«
»Sie haben recht, das ist kein Leben.« Rafe zog eine komplette Brezel mit drei Löchern aus der Schüssel und bot sie ihr an. Seine Stimme war plötzlich ernst. »Seien Sie nie mit dem zufrieden, was andere übrig lassen.«
Beeindruckt und fasziniert von seinem Drängen nahm Lisl die Brezel und lachte. Ein wenig zu schrill, wie es ihr vorkam.
»Das ist doch nur eine Brezel.«
»Nein. Es ist eine Haltung, eine Willenserklärung. Eine Parabel auf das Leben und wie man sein Leben leben will.«
»Ich denke, Sie interpretieren da zu viel hinein.« Aber was sollte man auch sonst von jemandem erwarten, der gerade in Psychologie promovierte. »Das
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