ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
einer tief hängenden Wolke versteckt. Die Stadt erwachte langsam zum Leben, aber im Parkview-Komplex war immer noch alles ruhig. Sie fuhr zur Rafes Wohnung und zögerte keinen Augenblick. Sie ging direkt zu seiner Wohnungstür und hämmerte gegen die glänzende Metallbeschichtung. Im Innern war alles still. Sie zog ihren Schlüssel und öffnete die Tür.
»Rafe?« Sie trat ein. »Rafe? Bist du da?«
Sie blieb auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen und erstarrte entgeistert.
Der Raum war leer. Komplett ausgeräumt. Die Möbel, die Gemälde, selbst die Teppiche – alles war weg.
Was geht hier vor?
»Rafe?«
Sie hastete von Raum zu Raum. Das Klacken ihrer Schuhe auf dem Parkett hallte durch die Leere. Überall war es das Gleiche. Alle Spuren von Rafes Gegenwart waren restlos getilgt.
Nur in der Küche nicht.
Auf der Spüle lag etwas. Lisl rannte hinüber und sah, dass es ein Zettel war – und ein Reagenzglas. Sie nahm es auf und roch am offenen Ende – eine Spur von dem schwachen Aroma von Äthylalkohol. Sie kannte das Reagenzglas. Als sie es das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie seinen Inhalt in Evs Orangensaft gekippt.
Sie hob den Zettel mit der anderen Hand hoch und warf einen Blick darauf. Ziffern und Buchstaben in Rafes Handschrift. Passwörter.
Evs Passwörter.
Kraftlos und wie betäubt drehte Lisl sich im Kreis und überblickte die leeren Räume des Apartments. Sie fühlte sich vollkommen orientierungslos und ganz allein auf der Welt.
Er war weg. Rafe hatte seine Sachen gepackt und war verschwunden. Kein Abschied, keine Erklärung. Einfach weg. Nicht einmal eine gehässige, fiese Notiz, in der er ihr mitteilte, dass sie seinen Ansprüchen nicht genügte. Das wäre immer noch besser als gar nichts. Sie wusste jetzt, wie seine Regeln aussahen und sie wollte mit ihnen nichts zu tun haben.
Aber das Reagenzglas und die Zugangsdaten – das traf sie ins Mark. Alles andere mitzunehmen und nur das zurückzulassen war eine wohlüberlegte Grausamkeit. Eine sehr gut überlegte Grausamkeit. Beweismittel für das, was sie getan hatte; die Erinnerung, dass sie für alles verantwortlich war, was passiert war.
Sie starrte auf die Gegenstände, dann schloss sie die Augen.
Evs Gesicht starrte ihr von der hinteren Seite ihrer Augenlider entgegen.
Mit einem Aufschrei ergriff sie die Muschel, die um ihren Hals hing, und zerrte daran. Die Goldkette riss. Sie schleuderte das Schmuckstück von sich und floh aus Rafes Wohnung.
Sie fuhr zu Wills Haus, aber da war alles so, wie sie es in den frühen Morgenstunden verlassen hatte – leer. Zwar waren seine Möbel noch da, aber wo war Will? Es sah nicht so aus, als sei er zurückgekommen, seit sie da gewesen war.
Ihr kam ein schrecklicher Gedanke: War er auch darin verwickelt?
Nein, das war zu verrückt, zu paranoid. Es stimmte, bei Rafe im Kopf gingen merkwürdige Dinge vor, aber Will hatte nichts damit zu tun, da war sie sich sicher. Aber wo war er?
Sie gab auf und fuhr nach Hause. Auf dem Weg dahin begann es zu regnen.
Einen Augenblick lang, als sie die Wohnung betrat, hatte sie das Gefühl, Rafe könne dort auf sie warten. Aber nein, die Räume waren leer.
Leer … so wie sie, wie ihr ganzes Leben. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt, so isoliert. Wenn sie doch jemanden hätte, den sie anrufen, mit dem sie reden könnte. Aber sie hatte hier nie enge Freunde gehabt, und seit sie sich mit Rafe eingelassen hatte, hatte sie sich von allen entfremdet, die sie hätte anrufen können. Und ihre Eltern – Gott, wenn sie schon nicht über banale Dinge mit ihnen reden konnte, wie sollte sie dann über das mit ihnen sprechen? Will war der Einzige, und er war verschwunden.
Sie ging ins Schlafzimmer und ließ sich auf die zerknüllten Laken fallen. Schlafen. Vielleicht half das. Nur ein paar Stunden Auszeit von dem Kummer, den Schuldgefühlen und der Einsamkeit. Danach käme sie wieder klar.
Aber wie sollte das aussehen? Zurück in die Mathematik-Fakultät? Nach dem, was sie getan hatte? Unbehelligt in der Hackordnung aufsteigen, weil Ev ihr nicht mehr im Weg stand? Wie könnte sie so etwas tun?
Lisl saß auf der Kante ihres ungemachten Bettes und versuchte sich ihre Zukunft auszumalen, aber sie sah nichts. Es war, als sei sie mit Blindheit geschlagen. In plötzlicher Panik griff sie in ihr Nachttischchen nach der Flasche mit den Temazepam-Tabletten.
Schlaf. Ich brauche etwas Schlaf.
Aber den würde sie bestimmt nicht finden, wenn Ev sie jedes Mal anstarrte,
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