ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
einlassen.«
»Und da gibt es niemanden?«
Bill zuckte die Achseln und legte einen Finger auf die Lippen. Er vermied es, die Aussichten auf eine Adoption vor den Kindern zu besprechen – egal wie beschäftigt sie auch schienen, hatten sie doch meistens die Ohren gespitzt.
Er klatschte einmal in die Hände und stand auf.
»Komm schon, Danny, mein Junge. Sehen wir zu, dass wir dich endgültig für diese Nacht ins Bett kriegen.«
Nick erhob sich und gähnte. »Ich werde mich dann auch mal auf den Weg machen. Ich muss noch den ganzen Weg nach Long Island fahren.«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Nächsten Samstag?«, fragte Bill.
Nick winkte: »Gleiche Stelle, gleiche Welle.«
»Wiedersehen, Nick!«, sagte Danny.
»Wiedersehen, mein Kleiner«, sagte er zu Danny, dann blinzelte er Bill zu. »Und viel Glück!«
»Danke. Bis nächste Woche.«
Bill streckte die Hand nach Danny aus, der sie nahm und sich den langen Korridor hinunter in den Schlaftrakt führen ließ. Aber nur ein paar Schritte weit. Dann ließ er los und rannte schon wieder vor und zurück und im Kreis um Bill herum.
Bill schüttelte fassungslos den Kopf. All diese Energie. Er war immer wieder verblüfft, wie viel davon Danny hatte. Wo nahm er die nur her? Und was konnte Bill tun, um diese Energie in die richtigen Bahnen zu lenken? Denn Bill bezweifelte, dass sich für den Jungen eine Pflegefamilie finden ließ, solange man diese rastlose Aktivität nicht zähmen konnte.
Ja, er war ein liebenswertes Kind. Kindersuchende Paare kamen herein, warfen einen Blick auf ihn – das blonde Haar, diese Augen, dieses Lächeln – und sagten: Das ist der Junge, den wir gesucht haben, das ist das Kind, das wir schon immer wollten. Man erklärte ihnen seine Hyperaktivität, aber die prospektiven Eltern waren sich sicher, sie würden das meistern – ›Sehen Sie ihn sich doch an … Wir nehmen das in Kauf, wenn wir diesen Jungen aufziehen dürfen. Wir schaffen das.‹
Aber nachdem Danny schließlich ein Wochenende bei ihnen verbracht hatte, klang das mit einem Mal immer ganz anders. Plötzlich hieß es dann: ›Wir müssen das noch einmal überdenken‹ oder ›Vielleicht sind wir dafür doch noch nicht wirklich bereit‹.
Bill nahm es ihnen nicht übel. Freundlich formuliert war Danny eine Zumutung. Dieser eine kleine Junge brauchte so viel Aufmerksamkeit wie zehn normale Kinder. Er war von einer ganzen Menge neurologisch geschulter Kinderärzte untersucht worden, man hatte alle möglichen Tests mit ihm durchgeführt, aber man war zu keinem Ergebnis gekommen. Es gab keine medizinischen Gründe. Er litt einfach an unspezifischer Hyperaktivität. Die normalen Medikamente dagegen schlugen bei ihm nicht an.
Also ging seine unaufhörliche Aktivität Tag für Tag weiter. Und einer nach dem anderen gab Danny entnervt auf.
Was Bills Zuneigung ihm gegenüber beinahe noch steigerte. Vielleicht lag es daran, dass von all den Jungen in St. Francis Danny mittlerweile am längsten da war. Zwei Jahre. Er hatte sich von dem schüchternen, introvertierten hyperaktiven fünfjährigen Überlebenden einer drogensüchtigen Mutter, die sich im Rausch versehentlich selbst angezündet hatte, zu einem offenen, liebenswerten hyperaktiven Siebenjährigen entwickelt. Und es war nicht so schwer, ihn hier in St. F’s unter Kontrolle zu halten. Nach vielen hundert Bewohnern in der länger als ein Jahrhundert währenden Geschichte des Waisenhauses war das Gebäude so kindersicher, wie es ein Haus nur sein konnte. Es hielt sogar Danny Gordon stand.
Aber die Tage des St.-Francis-Waisenhauses waren gezählt. Die Gesellschaft Jesu schränkte ihre Aktivitäten ein – wie bei allen religiösen Orden gab es auch immer weniger Jesuiten – und St. F’s gehörte zu den Institutionen, die aufgegeben wurden. Die Stadt und andere katholische Gesellschaften würden seine Aufgaben übernehmen, wenn das Gebäude in zwei oder drei Jahren endgültig geschlossen wurde. Das alte Waisenhaus beherbergte zurzeit weniger Knaben als je zuvor in seiner Geschichte.
Als er die Bettdecke über Danny zurechtrückte und ihm bei seinen Gebeten zur Hand ging, überlegte Bill, ob er wohl zu sehr an dem Kind hing. Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen: Es war so. Das war ein Luxus, den sich jemand in seiner Position nicht leisten konnte. Oberste Priorität hatten die Interessen des Kindes – in jedem Fall. Er durfte nicht zulassen, dass seine Entscheidungen von Gefühlsregungen beeinflusst wurden. Sicher, es
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