Angstspiel
Daraufhin fällt meine Mutter
fast um. Die beiden kichern sich halb weg. Ich muss aber zugeben, dass meine Mutter echt schöne Füße hat. Die lackiert sich sogar die Zehen. Danach soll mein Opa mir einen Handkuss geben.
»Dafür musst du dich aber ein bisschen hübsch machen«, befiehlt Luise. »Sonst wirkt das nicht echt. Zieh dir mal ein Kleid an.«
»Soll ich mich hübsch machen oder ein Kleid anziehen?«, blaffe ich zurück.
Ihr Blick sagt: Klappe halten. Machen!
Ganz hinten in meinem Kleiderschrank finde ich ein Sommerkleid. Dazu werfe ich mir einen breiten Schal um die Schultern.
Mein Opa nimmt ganz vorsichtig meine Hand und beugt sich mit dem Mund darüber.
»Küss die Hand, gnä’ Frau«, säuselt er belustigt.
»Aus. Aufhören«, zischt Luise.
»Linda, du siehst aus, als wollte Opa da reinbeißen. Oder als hätte dir gerade ein Vogel auf die Hand gekackt. Sei doch mal ein bisschen huldvoll.«
»Huldvoll?« Das Wort ist nicht in meinem Sprachschatz.
Luise lässt die Kamera sinken.
»Vielleicht liegen dir einfach andere Rollen mehr.«
Opa wird zu Frau Zorn nach nebenan geschickt. Die ist mindestens achtzig, legt manchmal mit Opa eine Patience und ist genau die richtige Frau für huldvolle Angelegenheiten.
»Ich kann Schokokuss«, werfe ich ein.
Luise lacht auf.
»Super Idee. Du küsst einen Schokokuss. Haben wir welche?«
Natürlich nicht.
Ich werde zum Supermarkt geschickt.
Als ich wiederkomme, üben sich Opa und Frau Zorn
gerade im Eskimokuss. Wie wild schubbern sie ihre Nasen aneinander. Frau Zorn hat richtig rote Wangen. Ich küsse die Schokoteile, bis ich völlig verschmiert bin, anschließend drücke ich dicke rote Kussmünder auf den Spiegel. Meine Ma geht in den Garten und drückt von außen ihren Mund auf die Fensterscheibe. Das sieht fast ein bisschen ekelig aus.
Wir küssen uns fast drei Stunden durch den Abend und Luise ist absolut happy.
»Ich mache jetzt mal Abendbrot«, damit erklärt meine Mutter irgendwann das Shooting für beendet.
»Was gibt es denn? Vielleicht Couscous?«, albert mein Vater.
Kann sein, dass meine Familie manchmal ein bisschen albern ist. Aber ich finde sie auch richtig gut. Meistens. Das Kokon-Gefühl hält nur ein paar Stunden, und die meisten davon verschlafe ich leider. Ich hätte sie mehr genießen sollen. Ich werde im Morgengrauen wach, weil mein Großvater immer wieder halblaut »Hallo? Ist da jemand?« ruft. Mir graut auch. Er ist offenbar auf seiner kleinen Terrasse. Weil er gar nicht aufhört, in den Morgen hinein zu fragen, stehe ich auf und gehe vorsichtig in sein Zimmer. Er steht in seinem Bademantel vor der Terrassentür.
»Opi, was ist los? Wen suchst du?«
Er schreckt rum, kommt dann reingeschlappt.
Leise schließt er die Tür hinter sich, zieht ruckartig die Gardine vor.
»Ich glaube, da war jemand«, sagt er mehr zu sich als zu mir.
»Vielleicht ein Tier. Eine Katze oder so«, sage ich und will es selber glauben.
»Ja, vielleicht«, sagt mein Großvater und glaubt es offensichtlich auch nicht.
»Du solltest vielleicht nicht mit offener Gartentür schlafen. Es wird jetzt nachts schon sehr kalt. Und außerdem: Hinterher kommt hier noch eine Katze rein und macht sich über deinen Schnuckelvorrat her.«
Mein Opa ist das absolute Leckermaul. Witzigerweise steht er nicht nur auf Altherrenschokolade oder After Eight oder so einen Senioren-Süßkram. Er hat immer einen Vorrat an Flips und Chips und Weingummi und so. Manchmal holt er sich am Kiosk eine Mischung. Salinos, saure Zungen, alles, was fies ist. Süß.
»Ich versuche noch ein bisschen zu schlafen«, sagt er nur und zieht seinen Bademantel aus. Nur in seinem hellblauen Schlafanzug sieht er jetzt noch kleiner aus als sonst.
»Gute Idee«, behaupte ich. Wir wissen beide, dass er nicht mehr schlafen kann. Und ich alleine weiß, dass ich es auch nicht mehr kann.
War es wieder Scheiß-Paul? Und wenn ja, warum?
Es juckt mir in den Fingern, den Ghostwriter anzumailen. Ihm einfach alles zu schreiben.
Alles?
Was ist alles?
Dass ich mich in ein Phantom verliebt hatte? Dass ich ein falsches Phantom gejagt habe? Dass es jetzt noch nicht mal mehr ein Phantom gibt, sondern nur die Spuren davon?
Irgendwann versuche ich die Gedanken unter der Dusche mit viel heißem und noch mehr kaltem Wasser abzuspülen. Ich rubbele meine Haut, bis sie überall puterrot ist. Immer wieder schiebt sich für eine Zehntelsekunde - vielleicht noch kürzer - das Bild in meinen Kopf, wie mein Opa
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