Angstspiel
wie lange ich hier gesessen habe. Die Stunde ist rum. Es ist interessant, dem Treiben von hier oben zuzusehen. Als würde ich auf einen Ameisenhaufen gucken. Eine Ameisenstraße führt von der Turnhalle zum Hauptportal, eine Straße über den Schulhof zum Hintereingang, ein paar haben es eilig, überholen schnell. Ganz am Rand sehe ich plötzlich Merlin. Er hat einen Fotoapparat vorm Gesicht. Offenbar knipst er irgendwas. Vielleicht die neuen Graffiti für die Schülerzeitung. Ich habe Angst, dass er plötzlich das Objektiv auf mich richtet. Wusste gar nicht, dass Merlin gerne fotografiert. Dann wird es wieder ruhiger. Die Fünf-Minuten-Pause ist vorbei. Ich stehe auf und ducke mich gleich wieder. Habe nicht mitbekommen, dass eine Klasse jetzt Musik hat. Der Raum ist besetzt. Ich kann jetzt schlecht durch das Fenster wieder reinklettern. Also setze ich mich wieder. Auch nicht schlimm. Ich will ohnehin nicht zurück. Ich will nur nach Hause, mich wieder ins Bett legen. Mir die Decke auf den Kopf fallen lassen. Ganz plötzlich sind da wieder Tränen. Ich lasse sie einfach auf meine Oberschenkel fallen. Ich sitze ganz am Rand des Flachdachs. Natürlich gibt es ein Geländer. Ganz am Rand aber kann man sich durchquetschen, wenn man will. Ich
wollte. Jetzt lasse ich die Beine baumeln. Unter meinen Füßen ist viel Luft.
Und wenn ich mich jetzt einfach abstoße?
Ganz kurz nur ist der Gedanke da, verschwindet gleich wieder. Aber der Nachgeschmack bleibt. Meine Hand tastet nach hinten, die Finger legen sich um einen der Metallpfosten. Sicher ist sicher.
Ich stelle fest, dass ich anfange, vor mir selber Angst zu bekommen.
Ich zwinge meine Gedanken in eine andere Richtung.
Wenn ich morgen und übermorgen und noch viele Tage danach nicht in die Schule will, brauche ich eine Krankheit. Eine lange Krankheit. Keine blöde Erkältung - etwas Ansteckendes wäre gut.
Luise hatte mal Pfeiffersches Drüsenfieber. Da ist sie eine wirklich lange Zeit ausgefallen. Aber Fieber zu simulieren ist unmöglich.
Ich bin ohnehin nicht gut im Krankwerden. Mit sieben oder acht wollte ich mir mal den Arm brechen. Ich sollte bei der Weihnachtsfeier des Turnvereins mitmachen und konnte als Einzige keine Radwende. Irgendwo hatte ich einen super Tipp gehört: Man müsse sich eine Zitronenscheibe in die Armbeuge legen, dann den Arm so anwinkeln, dass die Scheibe festgehalten wird, und den Arm in dieser Position festbinden. Damit müsse man dann eine Nacht schlafen und am nächsten Morgen sollte man ruckartig den Arm strecken. Es hieß, durch den Zitronensaft würde der Knochen über Nacht aufweichen, sodass er bei der ruckartigen Bewegung sofort brechen würde. Ich habe am nächsten Morgen in absoluter Zeitlupe den Arm gestreckt, weil ich so eine Angst vor dem Schmerz hatte. Natürlich ist nichts gebrochen. Ich habe mitgeturnt und mir bei der Radwende den Fuß verstaucht.
Ich gucke noch mal nach unten. Wenn ich jetzt springe,
verstauche ich mir nicht nur den Fuß. Vielleicht breche ich mir das Bein und muss für ein paar Wochen ins Krankenhaus.
Vielleicht aber breche ich mir das Rückgrat und sitze demnächst auch im Rolli. Da würde der Kaktus aber staunen.
Gott sei Dank schließt keiner aus der Musikklasse das große Schiebefenster, also kann ich nach dem Klingeln die Dachterrasse wieder durch das Fenster verlassen. Und ansonsten wäre das auch nicht dramatisch gewesen: Schließlich habe ich schon mal ein Loch in ein Fenster gehauen. Ich verlasse das Gebäude durch den Hinterausgang, nehme lieber einen Umweg in Kauf. Im nächsten Internet-Café versuche ich mein Glück, suche im Netz nach ansteckenden Krankheiten. Super. Grippe ist ansteckend. Magen-DarmErkrankungen sind ansteckend. Das wusste ich bereits. Das bringt mir gar nichts! Kinderkrankheiten sind natürlich auch total ansteckend, aber ich habe keine Ahnung, wie ich Windpocken, Masern oder Röteln simulieren soll.
Nach einer Stunde suchen ist mir klar: Ich brauche eine Verbrennung oder eine Vergiftung. Das ist zwar nicht ansteckend, setzt mich aber ein bisschen langfristiger außer Gefecht. Alles andere braucht Zeit oder Fieber. Ich gucke mir Bilder von Verbrennungen an. Mir wird schlecht. Ich sehe riesige Brandblasen. Eiter. Narben.
Ich gehe raus, ohne die Seite zu schließen. Ich muss weg hier. Am liebsten weg von mir. Aber ich bin ja immer bei mir.
So weit hat er mich.
Dass ich mich selber verletzen will.
Dass ich vor mir selber weglaufen will.
Ich komme an unserem
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