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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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lassen, würde bis auf Weiteres im Dunkeln bleiben.
    An manchen Tagen empfand ich dieses ungelöste Rätsel als mehr als quälend. An anderen Tagen jedoch war es mir egal, in den Momenten völliger Resignation, in denen mir alles egal war. Das Schicksal der Freundin genauso wie das eigene oder das von sonst irgendjemandem. Es waren Tage und Nächte, an denen ich mich nicht mehr von meinem Sofa erhob, nach kurzer Zeit unbewussten Lesens vergaß, der Schrift zu folgen, die Seite umzublättern. Nicht mehr bemerkte, wie die Zeit verstrich und ich ins Nichts stierte, das Nichts stumm und leer zurückstierte, dass es immer größer wurde, allumfassend, mich umschlang, verschlang, sodass ich mich darin verlor – bis irgendwann Katya auftauchte, mich tadelnd ansah, mir das Buch wegnahm, das Licht je nach Tageszeit anknipste oder löschte, mich ins Bett brachte oder mir auf dem Sofa die heruntergerutschte Decke über meine Schultern breitete, mich in die Kissen drückte, küsste und mir sanft befahl zu schlafen. Dann schlief ich seltsamerweise immer sofort ein, schlief manchmal einen ganzen Tag, aus lauter Erschöpfung von der Schwere und Dichte des Nichts.
    Wenn ich danach erwachte, war alles gut. Ich fühlte mich frisch und erholt und fröhlich. Dann ging ich oft in den Park beim Naval Observatory spazieren, so wie an diesem Tag. Die Sonne schien fahl hinter den Dunstschleiern eines hartnäckigen Hochnebels. Vereinzelte, vom Herbst verfärbte Blätter lösten sich von den Ästen, drehten sich in einem letzten Tanz verspielt um die eigene Achse und schwebten geräuschlos zu Boden. Es war windstill. Nach einem gemächlichen Spaziergang durch feuchtes Laub und über nasse Wiesen setzte ich mich auf eine Parkbank und schaute mich um. Es waren kaum Menschen zu sehen. Ich wunderte mich einmal mehr, wieso bei der immensen Arbeitslosigkeit keine Freizeithappenings im Park abgehalten wurden. Wieso die Menschen nicht in jeder freien Minute durch den städtischen Grünstreifen joggten, auf den Bänken faulenzten, Herzen und Namen in Baumrinden ritzten und Bälle oder Frisbees durch die Luft warfen. Und dabei lachten. So wie früher.
    Ich schloss die Augen und genoss die letzten kraftlosen Strahlen der Abendsonne. Nach wenigen Minuten war die Sonne hinter einer Baumgruppe verschwunden. Ich begann zu frösteln. Ich steckte die kalten Hände tief in die Taschen meines Sweaters und fischte die Mail von Tina heraus, deren Ausdruck ich eingesteckt hatte, um sie auf der Parkbank zu lesen. Ich faltete die Seiten auseinander:
    Liebe Lucy,
    schade, dass Du nicht länger bleiben konntest. Der Professor hat mir glücklicherweise erlaubt, Dir diese Mail zu schicken – natürlich wird sie von unserem verehrten General oder einem seiner Schergen kontrolliert (würden Sie bitte fehlende Kommata beim Lesen gleich einsetzen, lieber General?).
    Ich wollte schon früher schreiben, aber ich hatte verdammt viel zu tun mit unseren Neuen. Erwartungsgemäß haben nicht alle die Eröffnungen des Professors gleich cool verarbeitet. Eine hatte ’ne richtige Sinnkrise, diese kleine Rothaarige, ich weiß nicht, ob sie Dir aufgefallen ist. Sie heißt Sabine. Tagelang hat sie kein Wort rausgebracht, lief rum wie ein verschrecktes Reh und hat sich geweigert, irgendetwas zu essen außer ihren eigenen Fingernägeln. Der Professor hat ihr liebevoll zugeredet, der General hat ihr mit Zwangsernährung und Rückverschickung in den Knast gedroht. Ich weiß nicht genau, welche der Maßnahmen bei ihr gegriffen hat, aber langsam taut sie auf, und sie isst inzwischen wie ein Scheunendrescher. Die Fingernägel nimmt sie nur noch zum Dessert. Eine andere, so ’ne ganz Junge, sie ist knapp zwanzig und heißt Andromeda – stell dir vor, sie heißt tatsächlich so – , also die ist vollkommen ausgetickt. Hat gleich am Abend nach Schmelzers Vortrag einen hysterischen Anfall bekommen und dann noch einen und noch einen, man wusste nicht, wann der eine anfängt und der andere aufhört. Andromeda – ist das nicht ein Planet oder ein Sternenhaufen oder so was? – hat fast das ganze Geschirr in unserer Küche zerdeppert (oder soll ich sagen, in eine andere Umlaufbahn gebracht?), in ihrem Zimmer mehrere Kilo Putz aus der Wand getreten und rumgeschrien: ›Bringt mich doch gleich um, ihr Schweine, ihr Wichser, ihr perversen Säue‹ und so weiter, Du kennst das ja.
    Die anderen Frischlinge waren relativ pflegeleicht, wenn man von den üblichen kleineren Panik-, Wut- und

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