Animus
Farben. Lucy hing an meinen Lippen, tauchte in fremde Welten ein, stromerte mit mir durch staubige Straßen, in lärmende Bars, roch das faulige Wasser in den Sümpfen und kratzte sich unwillkürlich am Arm, als ich Mücken schwärmen ließ. Meine Lügengeschichten klangen so überzeugend, als wäre ich tatsächlich lange dort gewesen. Dabei waren es höchstens ein, zwei Monate. Das Essen verging wie im Fluge. Als die Kellnerin wieder an den Tisch trat, die Teller abräumte und nach den Dessertwünschen fragte, schüttelte Lucy abrupt den Kopf und sagte mit leicht zittriger Stimme: »Ich möchte gehen, sofort. Können wir nicht bei mir zu Hause einen Kaffee trinken?«
Pete schaute sie prüfend an. Auch mir war aufgefallen, dass Lucy wieder blass geworden war. Wir nahmen ihren Vorschlag an. Lucy erhob sich abrupt, nahm ihre Jacke und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Pete bat mich, draußen mit Lucy zu warten. Er wollte zahlen und dann nachkommen.
Ich folgte Lucy. Sie stand vor dem Pavillon und atmete tief durch.
»Ist dir nicht gut?«
»Es geht schon wieder. Ich hätte nur diese Kellnerin keine Sekunde länger in meiner Nähe ertragen.«
»Ja, die stank wirklich fies«, stimmte ich zu.
»Das auch«, sagte Lucy und wandte sich ab.
»Was denn noch?«
»Sie schlägt ihren kleinen Sohn mit einem Elektrokabel, bis er blutet«, gab Lucy gepresst zur Antwort, ohne sich umzudrehen.
»Woher weißt du das?«, wunderte ich mich.
Lucy schwieg. Pete kam aus dem Lokal heraus. Er legte seinen Arm um Lucy. Wir schlenderten schweigend durch den Park und die Straßen, bis wir Lucys Wohnung erreichten. Irgendetwas hatte die Stimmung umschlagen lassen. Erst als wir in Lucys gemütlichem Wohnzimmer saßen, fiel das Unbehagen langsam von mir ab.
»Kann es sein, dass ich was nicht mitgekriegt habe?«, versuchte ich mit scherzhaftem Ton die Stimmung aufzulockern.
Pete nickte. »Lucy ist eine Ratte.«
Ich schaute Lucy überrascht an. Lucy blickte ebenso irritiert zu Pete.
Der sagte: »Marc weiß Bescheid.«
»Wieso das?«, fragte Lucy.
»Er ist Evs Stiefbruder.«
»Wusstest du deswegen das mit der Kellnerin?«, fragte ich.
Lucy nickte langsam. Die Wendung des Abends war ihr noch nicht ganz geheuer.
»Was war mit der Kellnerin? Mit welcher Kellnerin überhaupt?«, wollte Pete wissen.
»Die Kellnerin im Pavillon«, klärte Lucy ihn auf. »Sie schlägt ihren Sohn. Deswegen wollte ich da raus. Ich habe sie nicht ertragen.«
Pete strich ihr gedankenverloren übers Haar. Viel später hat er mir mal gestanden, dass er nie etwas zu sagen wusste, wenn die Rede auf Lucys angezüchtete Fähigkeiten kam und die psychischen und physischen Schmerzen, die sie dadurch zu erdulden hatte. Er konnte es nicht nachempfinden und verspürte auch stets den Anflug eines schlechten Gewissens, da er an dieser ganzen Malaise nicht unbeteiligt war.
Doch Lucy wechselte gleich wieder das Thema und wandte sich an mich: »Ich nehme an, du hast die ganze Geschichte von Pete erfahren. Seit wann weißt du es?«
Ich erzählte ihr von meiner Rückkehr nach Hause, von dem Verschwinden Evs aus Seattle, der Hilflosigkeit, die wir empfanden, und meiner Suche nach meinem Jugendfreund Pete, in dem ich die letzte Hoffnung sah. Pete fügte meiner Schilderung hinzu, wie er Evs Verurteilung vor knapp zwei Jahren verfolgt hatte, die Vorschläge für die neuen Rekruten zusammenstellte und ihre Daten frisiert hatte, um sie ins Programm zu hieven. Lucy schüttelte missbilligend den Kopf. »Glaubst du wirklich, du hast der Kleinen damit einen Gefallen getan?«
»Ich habe sie ins Programm genommen, weil es dadurch einfacher ist, sie verschwinden zu lassen.«
»Wie meinst du das?« Lucy schien überrascht.
»Solange sie im Knast sitzt, kann man sie zwar mit einigem Aufwand herausholen, aber es ist schwierig, Spuren zu vermeiden. Sobald sie im Programm ist, das weißt du selbst, werden die Spuren ihrer Existenz von Walcott persönlich vernichtet. Ihre Eltern haben inzwischen die Mitteilung über ihren Tod erhalten, ihre Daten sind in allen Computern gelöscht worden. Wenn wir sie jetzt rausholen, wird kein Schwein nach ihr suchen. Außer Walcott natürlich. Aber das Problem wird sich lösen lassen, auch wenn ich jetzt noch nicht weiß, wie.«
Lucys Miene war undurchdringlich.
Pete wandte sich an mich: »Ev wird zwischen Weihnachten und Neujahr hier in Washington sein. Vielleicht können wir ein kurzes, heimliches Treffen zwischen euch arrangieren, Marc.«
In mir
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