Anita Blake 02 - Bllutroter Mond
1904 erinnern.
Die Straße, die über den Friedhof führte, gibt es nicht mehr. Nur noch ihren Geist, einen Karrenweg, wo das Gras nicht ganz so hoch wächst. Am Haus des Friedhofverwalters standen die Polizeiwagen und der Van des Leichenbeschauers. Mein Nova wirkte dagegen schäbig. Vielleicht sollte ich mir so eine verrückte Peitschenantenne besorgen oder einen Aufkleber mit Zombies» R«Us auf die Seiten kleben. Das würde Bert wahrscheinlich auf die Palme bringen.
Ich nahm einen Overall aus dem Kofferraum und schlüpfte hinein. Er verhüllte mich von den Fußknöcheln bis zum Hals. Wie meistens hing der Schritt in den Kniekehlen. Ich habe nie verstanden, warum, aber immerhin musste ich meinen Rock nicht hochziehen. Eigentlich trug ich das beim Pfählen von Vampiren, aber Blut ist Blut. Außerdem würde das hohe Gras meiner Strumpfhose übel zusetzen. Ich zog noch ein Paar Gummihandschuhe aus der Schachtel. Dann die Turnschuhe anstelle der Pumps, und ich war bereit, mir die sterblichen Überreste anzusehen.
Überreste. Netter Ausdruck.
Dolph stand da wie ein Turmwächter, er überragte jeden anderen auf dem Platz. Ich machte mich auf den Weg zu ihm und gab mir Mühe, nicht über abgebröckelte Steine zu stolpern. Ein Wind, der heiß genug war, um mich zu versengen, rauschte durch das Gras. Ich schwitzte in dem Overall.
Detective Perry kam, um mich zu begrüßen, so als brauchte ich eine Eskorte. Er war einer der höflichsten Menschen, die ich kannte. Er hatte eine altmodische Vornehmheit an sich. Ein Gentleman im besten Wortsinn. Ich wollte ihn immer mal fragen, was er getan hatte, um beim Spukkommando zu landen.
Sein schmales schwarzes Gesicht stand voller Schweißperlen. Er trug seine Anzugjacke, obwohl es fast vierzig Grad sein mussten. »Ms Blake.«
»Detective Perry«, sagte ich. Ich schaute zur Hügelkuppe hinauf. Dolph und eine Hand voll Männer standen dort, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten. Keiner schaute auf den Boden.
»Wie schlimm ist es, Detective Perry?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Hängt davon ab, womit man es vergleicht.« »Haben Sie die Bänder und Fotos vom Haus der Reynolds gesehen?« »Ja. «
»Ist es schlimmer?« Das war mein neuester Maßstab für »das Schlimmste, das ich je gesehen habe«. Bis dahin war es eine Vampirbande aus Los Angeles gewesen, die versucht hatte, sich hier breit zu machen. Als wir sie fanden, krochen noch einzelne Körperteile der Bande im Zimmer herum. Die ehrbare Vampirgemeinde hatte sie mit Äxten zerhackt. Vielleicht war die Reynoldssache gar nicht schlimmer. Vielleicht war meine Erinnerung einfach nur mit der Zeit verblasst.
»Der Anblick ist nicht blutiger«, antwortete er vorsichtig. »Aber es war ein Kind, ein kleiner Junge.«
Ich nickte. Er brauchte es nicht zu erklären. Bei einem Kind war es immer schlimmer. Ich wusste nie so genau, warum. Vielleicht wegen des Beschützerinstinkts. Eine tief sitzende hormonelle Sache. Wie auch immer, bei Kindern war es besonders furchtbar. Ich sah auf einen weißen Grabstein hinunter. Er sah aus wie trübes, schmelzendes Eis. Ich wollte nicht den Hügel hinaufgehen. Ich wollte es nicht sehen.
Ich ging den Hügel hinauf. Detective Perry folgte mir. Tapferer Detective. Tapfere Anita. Eine Plane lag im Gras wie ein Zelt. Dolph stand dicht daneben. »Dolph«, sagte ich. »Anita.«
Keiner bot an, die Plane wegzuziehen. »Ist es das?« »Ja.« Dolph schien sich zu schütteln, oder vielleicht war es ein Frösteln. Er bückte sich und fasste ein Ende des Lakens. »Bereit?«, fragte er.
Nein, ich bin nicht bereit. Zwingen Sie mich nicht dazu. Bitte, zwingen Sie mich nicht. Mein Mund war trocken. Ich konnte meinen Herzschlag im Hals spüren. Ich nickte.
Das Laken flog, vom Wind erfasst, zurück wie ein weißer Papierdrachen. Das Gras war niedergetrampelt. Ein Kampf? War Benjamin Reynolds noch am Leben gewesen, als er ins hohe Gras gezogen wurde? Nein, ganz sicher nicht. Gott, ich hoffte nicht.
Auf seinem Schlafanzug waren Trickfilmfiguren. Er war abgeschält wie eine Bananenschale. Ein Arm lag über dem Kopf, als schliefe der Junge. Die geschlossenen Lider mit den langen Wimpern stützten die Illusion. Die Haut war blass und makellos, der kleine gewölbte Mund halb offen. Er hätte schlimmer aussehen können, viel schlimmer. Auf dem Pyjama war ein brauner Schmutzfleck. Die untere Körperhälfte war noch von dem Tuch bedeckt. Ich wollte
Weitere Kostenlose Bücher