Anita Blake 11 - Jägerin des Zwielichts
Nicht dass ich stark genug war, ihn zu bezwingen. Ich versuchte es nicht mal. Meine Macht wandte sich ihm von selbst zu, und etwas in ihm harmonierte mit ihr, vielleicht sein Tier. Er drehte langsam den Kopf, um mich anzusehen, und sein Blick war gequält. Das machte mir nichts aus, ich fand es warm und gut und beängstigend.
Die Macht schwoll an, verband uns fester und fester, bis sie die Luft um uns ausfüllte.
»Was hat das verdammt noch mal zu bedeuten?«, fragte Claudia.
»Sie verbindet das Rudel«, sagte Rafael und zog die beiden Werratten von uns weg. Sofort verdichtete sich der Kreis, und Druck baute sich auf wie vor einem Sturm. Ich musste schlucken, um die Ohren freizubekommen.
Micah stellte sich vor mich. Die Übrigen umringten uns, als folgten sie einer einstudierten Choreografie. Wir blickten uns an, dann reichten wir uns die Hände. Jede Bewegung war schwer, als wäre die Luft erstarrt. Als Micah und ich uns an den Fingerspitzen berührten, glitten unsere Hände mühelos zusammen. Wir strömten ineinander, es war, als könnte sich einer im Körper des anderen bewegen. Sein Mund schwebte über meinem, und die Macht war da, atmend, pulsierend, heiß. Ich meinte, Angst haben zu müssen, aber ich wollte mich nicht von ihm lösen. Es war, als hätte ein Teil von mir, von dem ich nichts geahnt hatte, die Gewalt übernommen, und keine Vernunft, kein Zweifel könnten ihn aufhalten.
Es war kein Kuss, es war ein Verschmelzen. Die Macht strömte in sengenden Wellen von seinem Mund in meinen und umgekehrt. Ich konnte die anderen rings um uns fühlen wie die Radnabe die Speichen. Die Macht brannte und wuchs und schmolz uns zusammen. Es war, als ginge in uns eine Tür auf, und Micah und ich traten in den Körper des anderen. Und die zwei großen Tiere in uns banden uns zusammen wie mit einem Seil, das durch unser Fleisch und unseren Geist verlief. Ihre Energie loderte an den Linien der Macht entlang in die anderen Leoparden. Ich spürte es wie einen kräftigen Stoß, fühlte die anderen taumeln, als unsere vereinten Tiere den Kreis entlangwanderten. Dabei schaute ich in ihre Erinnerungen.
Ich sah Gina an ein Bett gefesselt und einen Mann über ihr wie einen Schatten, wie etwas Böses, das die Macht nicht klar sehen konnte; Merle von Wunden bedeckt und blutüberströmt an einer Wand zusammengekauert, weinend; Caleb allein, blutüberströmt, mit Verzweiflung in den Augen; Noah auf der Flucht durch einen Gang, getrieben von Schreien; Cherry zwischen Zane und Nathaniel und mir in einem großen warmen Bett; Zane an meinem Küchentisch beim Essen mit einem lachenden Nathaniel; Vivian in Stephens Armen in ihrem Bett; Nathaniel unter mir, als ich seinen Rücken mit den Zähnen markierte. Dabei spürte ich mehr Friede bei ihm als sexuelle Erregung, so als wäre eine große Last von ihm genommen worden. Und ich sah Gregory gefesselt, Hand- und Fußgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden, geknebelt, mit verbundenen Augen, verzweifelt vor Angst. Er lag nackt auf einer Schicht alter Knochen. Ich wusste, das war keine Erinnerung, das war, was Gregory in diesem Moment erlebte. Und ich konnte es sehen, seinen Schrecken fühlen. Trotzdem wusste ich nicht, wo er war.
Die Macht brandete tosend über uns hinweg und erfüllte uns mit tiefer Zufriedenheit. Es war, als beträten wir alle einen fremden Raum und stellten plötzlich fest, dass alles darin vertraut war, als hätten wir endlich unser Zuhause gefunden.
Micah löste sich zitternd von mir. Ich weinte und konnte mich nicht erinnern, wann es angefangen hatte. Ich hörte auch andere weinen, und sah, dass es nicht nur unsere Leute waren, denen die Tränen liefen, sondern auch einige Werratten, die uns mit Ehrfurcht - oder Furcht - in den Augen ansahen.
Plötzlich wurde mein Blick an allen vorbei zum Waldrand gezogen. Dort stand Richard mit nacktem Oberkörper und Jeans. Als ich ihn dort sah, bemalt von Sternenlicht und Schatten, hielt ich den Atem an. Nicht, weil er so schön war oder weil ich ihn begehrte - das war immer so -, sondern weil er mir wie ein wildes Tier erschien. Und das hatte mit seiner Wut nichts zu tun. Ich sah ihn am Waldrand, wie man unerwartet einen Hirsch in der Dämmerung entdeckt oder etwas Pelziges vor den Autoscheinwerfern über die Straße huschen sieht. Richard stand da, und als sich unsere Blicke trafen, ging ein Ruck durch mich, vom Scheitel bis zur Sohle und in den Boden. Richard hatte zwar alles getan, um
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