Anlass
leid«, sagte sie demütig, »daß ich so grob war. Sie müssen uns für sehr sonderbare Gastgeber halten.«
Das tat ich, aber ich lächelte. »Schon gut. Vielleicht bin ich etwas reizbar.«
Zaleshoff reichte mir mein Glas. »Es wundert mich, daß noch kein netter Bursche dieses Mädchen erschossen hat.«
»Vermutlich«, erwiderte sie ruhig, »weil nette Burschen keine Pistole bei sich tragen.« Sie beobachtete mich neugierig. »Warum haben Sie nicht etwas auf mich geworfen, Mr. Marlow?«
»Weil gerade nichts zur Hand war«, sagte ihr Bruder scharf. »Laß uns jetzt um Gottes willen in Ruh, Tamara. Sind Sie verheiratet, Marlow?«
»Nein. Verlobt. Sie ist in England.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber bestand irgendein besonderer Grund dafür, gerade diese Stelle hier anzunehmen?«
»Ja. Ich geriet in eine Phase des Konjunkturrückgangs, wie man das so schön nennt. Ich konnte keine vernünftige Stelle in England bekommen. Meine Ersparnisse waren beinahe aufgezehrt. Ich war schließlich ganz verzweifelt, und da nahm ich das Angebot von Spartacus an.«
»Aha. Dann würden Sie vermutlich nichts gegen die zweitausend Lire von Vagas haben, wenn ich Ihnen einen ausreichenden Grund gäbe, sie anzunehmen.«
Ich zögerte. »Offen gesagt, Zaleshoff, glaube ich nicht, daß es einen Grund gibt, der dafür gut genug ist. Ich sagte mir diesen Augenblick, daß ich ein verdammter Narr bin, hier zu sitzen und dies alles anzuhören, statt den Schlaf nachzuholen, den ich letzte Nacht versäumt habe. Aber ich bin neugierig. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ein Mensch mit gesunden Sinnen eine Stunde damit zubringt, mir Vagas’ Angebot auszureden, wenn er eigentlich will, daß ich es annehme.«
»Ich wollte es Ihnen nicht ausreden. Ich habe Ihnen nur Tatsachen mitgeteilt.«
»Diese Unterscheidung ist zu hoch für mich. Schließlich bin ich ja nicht verrückt. Glauben Sie, ich will das Schicksal des armen Ferning teilen?«
»Ich glaube nichts Derartiges. Es besteht auch gar kein Grund dafür, daß Sie sein Schicksal teilen sollten.«
»Das ist auch meine Meinung. Aber Sie müssen doch etwas in der Hinterhand haben.«
»Nein. Ich möchte Ihnen nur erklären.«
»Also los.«
»Lesen Sie Zeitungen?«
»So wenig wie möglich unter den heutigen Verhältnissen. Warum?«
»Haben Sie schon mal von der Achse Rom-Berlin gehört?«
»Wer hat das nicht?«
»Haben Sie je auf der Landkarte nachgesehen, was das bedeutet?«
»Nein. Ich habe mir nie die Mühe gemacht.«
»Das sollten Sie aber tun. Es ist interessant. Eine feste strategische Einheit von den Friesischen Inseln im Norden bis zur Stiefelspitze Italiens im Süden. Diese Stiefelspitze wird bei nächster Gelegenheit England einen Tritt versetzen. Der Kopf oben wird dann fressen, was übrigbleibt. Diese Achse Rom-Berlin ist eine der wirksamsten Grundlagen europäischer Macht, die es jemals gab. Sie hat Italien und Deutschland freie Hand in Spanien gegeben. Sie ist die längste Nase, die dem Völkerbund je gedreht worden ist. Sie hat Frankreich um seine kleine Entente gebracht. Sie hat das übrige Europa derart erschreckt, daß es aus der Angst nicht herauskommt. Sogar die Vereinigten Staaten sind unruhig geworden. Die Welt fängt an, sich um die Achse Rom-Berlin zu drehen, und man fühlt schon die Spannung. Irgend etwas muß zerreißen, und wenn es nicht diese Achse ist, so sind es Sie oder ich. Die Staatsmänner der sogenannten Demokratien Frankreich und England plagen sich ab, daß die Achse zuerst draufgeht. Aber es sieht ganz so aus, als würden sie es nicht schaffen. Die Dinge sind ihnen über den Kopf gewachsen. Sie versuchen, Italien zu kaufen, und scheitern. Sie versuchen es nochmals. Sie können nicht zuschlagen aus Angst, sich selbst zu verletzen. Sie haben den Boden unter den Füßen verloren und wissen es. Sie sind so konfus wie meine Metaphern. Sie sind verwirrt und durcheinander. Und inzwischen treiben wir mehr und mehr dem Krieg zu. Die vier apokalyptischen Reiter sind zum Start bereit, und, Marlow, wenn die wieder durch Europa reiten, können Sie allen Ihren Träumen adieu sagen. Das wird ein Krieg sein, nach dem auf der Welt alles mögliche gedeihen wird, nur nicht die Menschen. Es wird ein Staat sein, dessen Präsident Typhus heißt und dessen Kongreß aus leichenfleddernden Ratten besteht.«
Er machte eine Pause. »Natürlich fragen Sie sich jetzt, wo das alles hinaus soll. Ich will es Ihnen sagen. Es
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