Ann Pearlman
nicht daran erinnern. Hab ich dich da gekannt?‹
Ich hab den Kopf geschüttelt. ›Nein, du kennst mich nur jetzt, als deine Mom.‹ Dann hab ich weiter Brot geschnitten und gedacht, ich hätte deine Frage ausreichend beantwortet. Aber meine Antwort hat dich traurig gemacht. Du hast die Mundwinkel nach unten gezogen, dein kleines Kinn hat angefangen zu zittern. ›Das ist unfair. Total unfair. Du hast mich schon gekannt, als ich klein war. Sogar schon als Baby‹, hast du erklärt.
Ich habe dir geantwortet: ›Ich musste ja erst mal eine große erwachsene Frau werden, bevor ich dich zur Welt bringen konnte. Du hast mich als kleines Mädchen nicht gekannt, weil du da noch nicht auf der Welt warst.‹
Das hat dich mächtig aufgeregt. ›Nicht auf der Welt? Aber wo war ich denn dann?‹
Da hab ich mein Messer weggelegt und das Brot in den Tischbackofen geschoben. ›Das war, bevor du geboren bist. Bevor du angefangen hast zu existieren.‹ So behutsam ich konnte, hab ich es dir erklärt, aber trotzdem liefen dir die Tränen über die Wangen, so groß wie Regentropfen.« Mom schloss einen Moment die Augen und fügte dann hinzu: »Als du klein warst, hast du riesige Tränen geweint. So groß wie der Fingernagel an meinem kleinen Finger.«
Erstaunlich, wie viel meine Mom noch aus dieser Zeit weiß. Zumindest von dem, was vor Dads Tod passiert ist. Fast als hätte sich jeder Moment in ihr Gedächtnis eingebrannt.
»Ich hab dir gesagt, dass du bestimmt darauf gewartet hast, auf die Welt zu kommen. ›Stell dir vor, schon als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich einen winzigen Teil von dir in mir‹, hab ich dir als Trost gesagt.« Mom zuckte die Achseln.
»Dann hast du gefragt: ›Ich war also immer bei dir? In dir drin?‹
›Ja. Jedenfalls der Anfang von dir. Und als du fertig warst, hat mein Körper dich raus in die Welt geschoben. Erinnerst du dich an die Bilder von deiner Geburt?‹« Mom schaute auf die Wand hinter mir, als würde sich die Szene dort abspielen.
Mit einem leisen Kichern fuhr sie fort: »Du hast gelächelt und gesagt: ›Oh, danke, Mommy. Danke für meinen Körper.‹
Aber dann kam dir ein ganz neuer Gedanke. ›Du hast mich rausgeschoben? Aus deinem Körper? Warum denn?‹« Für meinen Part sprach Mom mit Kleinmädchenstimme – meiner Stimme von vor langer Zeit. ›Jetzt kann ich nie wieder ein kleines Baby werden. Ich kann nie wieder in dir drin sein‹, hast du gesagt.
›Wenn man geboren ist, kann man nur größer und erwachsen und dann alt werden und schließlich sterben‹, hab ich dir erklärt. ›Du selbst wirst kein Baby mehr, aber wenn du erwachsen bist, dann kann in dir wieder ein kleines Baby heranwachsen, und du kannst es rausschieben und eine Mommy werden.‹
›Kommst du dann und schaust dir mein Baby an?‹
›Na klar. Ich möchte dein Baby unbedingt sehen. Am liebsten gleich wenn es geboren ist.‹
Damit warst du schließlich zufrieden.«
Mom schwieg, und ich fragte mich, warum sie mir diese Geschichte ausgerechnet jetzt erzählt hatte. Manchmal erzählt sie etwas, weil sie eine schöne Erinnerung mit jemandem teilen möchte, manchmal enthalten ihre Geschichten eine Botschaft oder eine Warnung. Aber warum hatte sie mir diese Anekdote nicht nach Rachels Geburt erzählt? Unvermittelt fügte sie hinzu: »Du wolltest immer, dass alles fair und gerecht zugeht.« Wieder zuckte sie die Achseln und trank einen Schluck Wein.
Vielleicht wollte sie mich daran erinnern, dass man sich, wenn man geboren ist, immer auf dem Weg zum Sterben befindet. Dass wir nicht alle die gleiche Zeitspanne zugeteilt bekommen, ist doch die ultimative, unausweichliche Ungerechtigkeit.
Troy wacht auf und fragt noch einmal: »Wann kommt Tara?«
»Morgen, glaube ich.« Warum fragt er denn schon wieder nach ihr? »Warum?«
»Ich möchte sie sehen. Ich hab mit ihr gesprochen. Ich glaube, gestern Abend.«
Schweigend liege ich neben ihm.
»Sie ist wie meine kleine Schwester.«
»Nein. Sie war in dich verliebt.« Ich lache. »Bevor ich mich in dich verliebt habe.«
»Sie war einsam und hat sich immer mehr in ihre Musik zurückgezogen«, sagt er.
»Ich sehe das andersherum. Ihre Musik war ihr wichtiger als alle Menschen in ihrem Leben.«
»Man kann sie nicht von ihrer Musik trennen.«
»Wie bei dir mit dem Kunstspringen?«
»Nein. Ich bin gern gesprungen. Aber ich musste nicht springen. Außerdem hatte ich dich. Das Leben, das wir gemeinsam geplant haben.«
»Aber Tara hat Aaron.«
»Nicht
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