Ann Pearlman
verraten habe. Ich bin neidisch, dass dein Vater noch lebt.«
Tara schnaubt. »Was auch immer ich davon haben soll.«
»Solange er noch lebt, gibt es die Möglichkeit der Aussöhnung. Wenn einer von euch tot ist, ist es vorbei damit.«
Allie kauert im Schneidersitz auf ihrem Bett und beobachtet uns. Jetzt steigt mir auf einmal der süßliche Vanilleduft der Kerze in die Nase.
»Aber du weißt wenigstens, dass dein Vater dich geliebt hat«, gibt Tara zu bedenken.
Ja. »Und ich weiß, dass Troy mich liebt.« Ich hole tief Luft, sehe Tara an und sage: »Dein Leben ist so einfach. Du hast was riskiert und gewonnen, ich dagegen hab auf Sicherheit gesetzt und verloren.«
»Du hast nicht verloren«, entgegnen Allie und Tara wie aus einem Mund, und Tara fährt fort: »Troy ist tot, das stimmt. Aber DU hast nicht verloren. Du kannst immer noch entscheiden, was du als Nächstes tun willst. Wie du den Rest deines Lebens verbringen möchtest.«
»Bei dem, was passiert ist, hatte ich keine Möglichkeit, irgendetwas mitzuentscheiden.«
»Aber bei dem, was du als Nächstes tust«, beharrt Tara.
Warum glaubt Tara eigentlich, dass sie so viel weiß, wo sie doch noch so jung ist? Vermutlich weil sie so lange allein war, eigentlich schon als Baby. Zum ersten Mal macht mich das traurig. Ich sehe sie an, wie sie da sitzt. Ihre langen Wimpern werfen Schatten auf ihre Wangen, ihre Lippen sind leicht geöffnet, die Mundwinkel nach unten gezogen. Irgendwie wirkt sie nackt und verletzlich.
»Und du entscheidest, wie du die Dinge siehst«, stimmt Allie zu.
Er ist tot. So sehe ich das. Ich befinde mich im Albtraum meiner Mutter, allein.
Das denke ich, sage es aber nicht. Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich ja gar nicht allein bin.
Rachel. Gott sei Dank habe ich Rachel. Ich bin ihre Mutter, sie hat mich. Zum ersten Mal begreife ich das in seiner ganzen umfassenden Bedeutung. Rachel hat mich. Sie hat immer noch mich. Und ich habe sie.
»Und du hast uns, wenn du Hilfe brauchst. Mich, Mom, Aaron, Levy. Die ganze Crew.«
»Und mich«, ruft Allie.
»Aber vor allem hast du dich selbst. Das ist am wichtigsten«, fügt Tara hinzu.
Und Rachel hat mich.
8
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Tara
W enn man jemanden aus einer anderen ethnischen Gruppe liebt, sieht man die Welt mit anderen Augen. Die Lehre aus Allies Geschichte entspricht voll und ganz meiner eigenen Erfahrung. Schon komisch, aber inzwischen sehe ich die Welt manchmal mit schwarzen Augen. Schwarze Menschen, die mich nicht kennen, finden solche Bemerkungen doof. Woher will eine Weiße denn wissen, wie es ist, schwarz zu sein? Sie braucht doch bloß wegzugehen, und schon ist sie wieder in ihrer weißen Welt. Aber das geht nicht. Ich laufe herum mit einem Gesicht, das weiß aussieht, aber ich erlebe Amerika wie eine Schwarze. Was der schwarzen Bevölkerung geschieht, betrifft auch mich – durch die Menschen, die ich liebe. Wenn ich allein oder mit Mom oder Sky zusammen bin, hält man mich für einen Teil der großen Masse weißer Menschen. Aber wenn ich allein in der Welt umherlaufe, dann stelle ich mir vor, wie die anderen mich behandeln würden, wenn sie von Aaron und Levy wüssten. Oder wenn ich selbst schwarz wäre. Ich nehme den Rassismus stärker wahr, weil ich ihn von beiden Seiten kenne. Ich kenne die Freiheit und Geborgenheit der Weißen.
Heute verstehe ich Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte, bevor ich Aaron begegnet bin. Früher habe ich mich nicht darum gekümmert. Beispielsweise gibt es sehr wenige Weiße in niederen Dienstleistungsjobs. Das war für mich im mer so selbstverständlich, dass ich es nicht mal registriert habe. Für die meisten Leute ist das so. Wir Weißen gehen einfach davon aus, dass das System so funktioniert, deshalb denken wir nicht mal darüber nach, wie wir davon profitieren. Aber jetzt sehe ich, wie diese Annahme Aarons Leben beeinflusst und wie sie das Leben meines Sohnes beeinflussen wird, den ich mehr liebe als mich selbst.
Was immer den Schwarzen geschieht, welche Spielart des Rassismus unser Land in Zukunft verfinstern wird, es betrifft immer auch mich. Manchmal komme ich mir wie eine Hochstaplerin oder eine Spionin vor, als würde ich nur so tun, als wäre ich weiß, wenn ich mit Weißen zusammen bin. Ich stelle mir vor, wie sie auf mich reagieren würden, wenn sie wüssten, wie ich wirklich bin, wie sehr ich Aaron liebe, dass ich Levys Mutter bin. Es gibt also mein Selbst, das jenseits von Rasse existiert, und mein
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