Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
das ich ihr gezeigt habe. Worte werden nicht ausreichen, um dieses Bild zu überwinden.
Ich stehe still und warte, bis sie aufhört, um sich zu treten. »Erlauben Sie mir, Ihnen den Knebel abzunehmen?« Kurzes Zögern, dann ein zittriges Nicken. Langsam und vorsichtig beuge ich mich über sie und löse den Knoten in dem Tuch. Als ich es wegziehe, schaut sie einen Augenblick lang zu mir auf, und ich glaube, sie hat es geschafft. Ich lächle sie an und strecke die Arme aus, um die Fesseln an ihren Händen zu lösen.
Sie beginnt zu schreien. Ein lautes, schrilles, durchdringendes Kreischen. Erschrocken fahre ich zurück. Mein erster Gedanke gilt nicht ihrem Wohlergehen, sondern meinem. Ich habe Nachbarn zu beiden Seiten. Ich muss sie beruhigen. Wieder strecke ich die Arme aus, gebe säuselnde Laute von mir, die hoffentlich besänftigend klingen. Sie schreit noch lauter.
Himmel. Ich knalle die Schiebetür hinter mir zu. Sie wird noch die gesamte Nachbarschaft wecken, wenn ich nichts unternehme. Plötzlich höre ich Holz splittern. Jemand bricht meine Haustür auf. Zu spät. Bei dem Geräusch dreht die Frau noch weiter auf. Schritte poltern die Treppe herauf. Polizisten erscheinen in der Schlafzimmertür. Einer stößt mich von der Frau weg, der nächste wirft mich zu Boden.
Der Instinkt, mich zu wehren, wird von einer Stimme in meinem Kopf besänftigt. Anna, ich bin da. Entspann dich. Sag nichts.
Es ist Ortiz, nun wieder in Uniform, zusammen mit zwei Kollegen. Ortiz übernimmt die Kontrolle. Er schafft mir den Polizisten vom Hals und erlaubt mir aufzustehen. Er sagt seinen Kollegen, dass er mich kennt. Der zweite Polizist bindet unterdessen die Frau los.
Er wirft ihr ein Bettlaken zu, und sobald sie aufrecht sitzt, beginnt sie zu brabbeln. Sie erzählt den Polizisten, dass ich vom Balkon her im Raum erschienen sei, nicht durch die Tür, und dass ich sie mit einem Tiergesicht und gelben Augen angestarrt hätte. Sie wechseln Blicke und sehen mich an. Ich setze ein möglichst normales Gesicht auf und zucke mit den Schultern.
Ortiz bittet einen seiner Kollegen, mich nach unten zu begleiten, während er die Frau befragt. Erst als sie im Krankenwagen weggebracht wurde und die Spurensicherung da war (und eine Garnitur meiner besten Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle mitgenommen hat), setzt er sich zu mir an den Küchentisch. Meinen Bewacher schickt er hinaus.
»Das war Burke«, sagt er. Ich reiche ihm eine Tasse Kaffee. Draußen graut der Morgen, und offensichtlich werde ich nun doch keinen Schlaf bekommen. Er ebenso wenig.
»Burke.« Das überrascht mich eigentlich nicht. Gehörte das auch zu ihrem kleinen Spielchen?
Er trinkt genüsslich seinen Kaffee. »Die Frau hat ausgesagt, dass sie überfallen wurde, als sie gegen Mitternacht eine Bar verlassen hat. Zwei Männer haben sie gepackt. Das Letzte, woran sie sich erinnert, ehe sie ihr etwas gespritzt haben, war eine Stimme, die ihr den Namen Belinda Burke genannt hat.«
»Nicht gerade subtil, was? Aber was wollte sie damit erreichen, dass sie die Frau bei mir ablädt?«
»Vielleicht dachte sie, du würdest die Kontrolle verlieren, wenn du das Blut riechst. Wir haben einen anonymen Anruf bekommen. Angeblich hat jemand gesehen, wie du eine gefesselte und geknebelte Frau in dein Haus geschleppt hast. Der Anruf kam zehn Minuten, ehe wir hier waren. Ehe du hier warst, anscheinend.«
»Wie hast du den Anruf mitbekommen? Als ich gegangen bin, warst du noch mit Williams im Hotel.«
Ortiz lächelt. »Ich höre den Polizeifunk ab. Als deine Adresse durchgegeben wurde, bin ich sofort hierhergerast. Ich habe mich im Auto umgezogen. Meine Kollegen haben angenommen, ich sei noch im Dienst.«
Ich nippe an meinem Kaffee und überlege, was Burke mit dieser Nummer hätte erreichen können. Ich lasse Ortiz mithören, während ich die Möglichkeiten durchgehe. Hat sie gehofft, dass ich im Gefängnis lande und sie mich vom Hals hat? Damit sie endlich freies Schussfeld auf Culebra hat? Wollte sie mir einfach nur Ärger machen? Mir zeigen, dass sie mich nach Belieben fertigmachen kann?
Ortiz schüttelt den Kopf. »Könnte alles davon sein. Vielleicht hat sie gehofft, dass du diese Frau umbringen würdest. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, dich aus dem Weg zu räumen.«
Jetzt schirme ich meine Gedanken gegen ihn ab. Die Frau war bei mir nicht in Gefahr – jedenfalls nicht in Lebensgefahr. Sie stand allerdings kurz davor, ein kleines Mitternachtshäppchen zu werden. Ich muss
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