Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
feststand.“
„Ach, und ich dachte wirklich, Ernst hatte die Geschichte frei erfunden.“
Der kleine Drache bewegte langsam seinen Kopf von links nach rechts. „Das wohl nicht. Er erzählte dir nur etwas, was du eigentlich wissen müsstest.“
Ian zog eine nachdenkliche Miene und fing an, im Raum hin und her zu marschieren. Seine Schritte hallten, die Füße wirbelten den Staub auf und hinterließen deutliche Spuren auf dem Boden. „Und was, wenn diese Frau sich irrt? Wenn ich gar nicht der letzte Drache bin? Wenn sie das alles gar nicht von mir erwarten kann? Dass sie einfach eine falsche Spur verfolgt?“
Er guckte ihn mitleidig an und lies eine kleine Dampfwolke aus den Nüstern entweichen. Seine Stimme klang leise aber bestimmt: „Sie irrt sich nicht. Sie kennt dich seit deinen frühen Kindertagen, seit der Zeit, in der du dich selbst noch nicht kanntest. Das tust du immer noch nicht, wie es aussieht.“ Er musterte eine Weile schweigend den jungen Mann vor sich, dann fügte hinzu: „Sie kannte deine ganze Familie. Sie war oft hier, bei euch im Haus. Und seitdem ihr Coup damals nicht ganz gelungen ist und du als letztes Drachenkind am Leben geblieben bist, behält sie dich im Auge.“
Ian hörte auf, umher zu laufen und blickte den kleinen Drachen verwirrt an. „Glaubst du? Und wozu?“
„Wie gesagt, sie spekuliert darauf, dass du so stumpf oder dumm in der Menschenwelt geworden bist, dass du so gründlich alles verdrängt hast, oder dass es dir alles einfach egal geworden ist. Du bist ja ein erwachsener Mann, der seine Träume wie seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Sie rechnet damit, dass es dir wohl nichts mehr ausmachen dürfte, ihr dein Volk auszuliefern. In deiner heutigen Wahrnehmung existiert es gar nicht, genauso wie die Andere Welt selbst. Es gibt aber etwas, wovor sie Angst hat. Und es ist wohl kaum die Kraft deiner Ahnen an sich. Die will sie aus einem anderen Grund haben.“
„Das hat mich schon gewundert, wozu noch mehr von etwas, was im Überfluss da ist.“
„Sie hat die Angst vor deiner Erleuchtung, deiner Rückbesinnung. Sie treibt die Furcht an, dass du begreifst, worauf es wirklich ankommt, dass du zu deinem wahren Selbst zurückkehrst.“
„Aha, spannend“, nickte Ian und setzte seinen Marsch fort. „Und was glaubst du, wie soll es weiter gehen?“
„Das musst du entscheiden. Ich kann dir sagen, was passiert, wenn du tust, was sie verlangt. Sofort danach wird sie dich im hintersten Teil des Schlosses parken. Du kommst nie dort raus, weder aus diesem Verlies noch aus ihrer Gewalt. Wozu denn auch? Du hast dich ihr dann verkauft. Du bist ihr ewiger Sklave, einer von vielen. Und dann vergisst du völlig, wer du einmal warst. Für immer. Du weißt dann nicht mal, dass du den größten Teil deines Lebens in der Menschenwelt verbracht hast und dort beinah ein ganz ordinärer Mensch geworden bist. Dabei hast du für einen gewöhnlichen Menschen eine sehr ungewöhnliche Vorgeschichte. Du wirst es endgültig vergessen, dass du mal ein Drachenkind warst und die Oberwelt schlichtweg geliebt hast, dass du mit sechs Jahren bereits mit den anderen Drachen da oben im Mondlicht tanzen wolltest. Aber“, der kleine Drache atmete tief aus und sah Ian traurig an, „wie es aussieht, weißt du das schon jetzt nicht mehr. Du scheinst verdrängt zu haben, dass du als kleiner Knirps so gerne geflogen bist. Selbst konntest es noch nicht, aber auf dem Rücken von einem erwachsenen Drachen machte das Fliegen dir tierisch viel Spaß. Du hast so glücklich gelacht und wolltest immer weiter nach oben, zu den Sternen, in den silbernen Mondschein.“
Ian hielt plötzlich an und drehte sich zum kleinen Drachen um. Sein Gesichtsausdruck verwirrt, musterte er eingehend die kleine Figur und schwieg.
„Du bist also auf dem besten Wege ein, höchstdekorierter und meistverarschter Zombie der Unterwelt zu werden.“ Eine große Träne lief aus seinem Auge und fiel auf die staubigen Steine. „Und zu welchem Preis!“
„Und was soll dann, deiner Meinung nach, aus dem Ganzen werden?“
Der kleine Drache blickte den jungen Mann direkt in die Augen. „Dann bist du tot. Endgültig tot! Nur deine Hülle wird sie in Schwarz kleiden, einige bunte Glitzersteinchen auf dein Gewand kleben und ein stumpfes, idiotensicheres Schwert an den üppig geschmückten Gürtel hängen lassen. So ein hohler Schwarzer Prinz ist für sie perfekt! Ganz nach ihrem Geschmack.“ Er schnaubte verächtlich. „Du darfst
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