Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
und bis in die kleinste Zelle ihres Körpers strahlte. Anna wollte auf einmal ihr ganzes Leben, alles, was ihr bis dahin widerfahren war, von diesem Standpunkt aus begreifen. Alles, was ich lebte und, ich weiß es jetzt auch liebte, war richtig so, wie es war. Wenn ich von vorne anfangen dürfte, würde ich es wieder so tun.
Aus ihrem Gedankenfluss wurde sie unsanft herausgerissen. Jemand fasste sie mit kräftigen Fingern am Kopf. Sie blickte auf und sah das schief grinsende Gesicht der Herrscherin schräg oben vor sich. Sie hielt ihre Hand auf Annas Kopf und drückte ihn langsam unter den weiter steigenden Schlamm.
Die junge Frau schloss die Augen und hielt den Atem an. Bis zu den Haarwurzeln wurde sie langsam in die braune Masse eingetaucht. Das Blut pochte in ihren Schläfen. Der Schlag wurde immer lauter und hörte sich bald wie eine Glocke an, die durch ihren ganzen Körper tönte.
Mit Staunen stellte die Jungmagierin fest, dass die neue Kraft bei ihr blieb. Sie nahm den Anfang in ihrer Mitte, breitete sich pulsierend bis zu den Fingerspitzen aus und machte sie frei und leicht. Die Kraft wuchs mit jedem Herzschlag und wurde dichter und greifbarer. Sie strömte aus den Grenzen ihres Körpers hinaus und gewann in alle Richtungen mehr Raum. Anna hieß sie herzlich willkommen. Daraufhin breitete sich eine mächtige Welle rasch aus und die geballte Wucht traf die dicken Glaswände.
Ein ohrenbetäubender Krach erschütterte die feuchte Luft. Das Glas zerschellte in Tausende Stücke. Mit Hochgeschwindigkeit wirbelten sie durch die Luft und verteilten sich über dem Platz.
Als das Klirren der Glassplitter abebbte, öffnete Anna langsam die Augen. Sie stand auf dem glatten, steinernen Sockel. Ihre Hände waren frei, der Pfeil weg. Der Schlamm, reich gespickt mit Glasstücken, die mit einer dicken Schicht alles im weiten Umkreis bedeckten, kroch von ihrem Podest herunter und verteilte sich weiter auf den Pflastersteinen wie ein flüssiger, zu lange gegorener Hefeteig. Die junge Frau zog ihre Hände vor die Brust. Das grobmaschige Netz verhüllte kaum ihre Haut, die Reste vom Schlamm tropften von ihr herunter. Ich muss dringend etwas Vernünftiges zum Anziehen haben! Sie zauberte sich schnell ein langes, einfaches Kleid.
Auf dem Platz kam auf einmal Bewegung in die Masse. Diener und Untoten richteten sich langsam wieder auf. Die einen stöhnten, die anderen fluchten. Sie schüttelten die Glassplitter von den Gliedern und blickten nach vorne zu ihrer Herrscherin.
Sie lag vor ihrem Thron. Ihr zierlicher Körper, mit einer Schicht von zerbrochenem Glas übersät, vermittelte den Eindruck einer zerbrochenen Porzellanpuppe. Plötzlich bewegte sie die Schultern, hob den Kopf und stützte sich mit der Hand vom Boden ab. Das Blut floss aus etlichen Schnittwunden am Hals und Händen.
Anna sah, dass die kleine Frau auch am Gesicht blutete. Ein dünnes Rinnsal kroch von der Stirn ihre linke Wange herunter. Ihre Wundersalbe wird sie wohl jetzt selbst brauchen . Sie sprang über die breite Schlammlache, balancierte zwischen den Glasstücken auf den glatten Steinen und streckte ihr die Hand entgegen.
Die Frau in Schwarz setzte sich vorsichtig auf und drehte langsam den Kopf zu ihr. Es waren die Augen einer Irren. „Geh weg von mir!“, schrie sie. Von der untersten Stufe des Throns hampelte sie hastig mit dem Rücken nach vorn bis zu dem Sitz hoch. Dabei stützte sie sich mit den Händen auf den Splittern ab und hinterließ hier und dort weitere Blutflecke.
„Ich wollte dir nur helfen“, erklärte Anna lächelnd, ihre Hand schwang herunter.
„Du hast mir schon genug geholfen“, zischte sie. „Dass du die Schwarze Magie übertrumpfen kannst ...“ Ein Blick voller Hass und Staunen blitzte aus ihren Augen. „Das hätte ich nie für möglich gehalten.“
Die Jungmagierin schmunzelte: „Es gibt keine schwarze oder weiße Magie. Es sind lediglich die Absichten, mit denen man die Kraft und das Wissen einsetzt. Nicht mehr und nicht weniger.“
Die Frau auf dem Thron sah Anna prüfend an. Der Hass wechselte zum Anflug von Wertschätzung. „Sag bloß nicht, dass du das von Alphira hast“, knurrte sie.
„Egal, woher ich es habe. Hauptsache, es stimmt“, erwiderte sie und lächelte dabei zufrieden. „Und jetzt gibst du mir den Stein zurück.“ Sie streckte ihre Hand erneut. „Und das Amulett.“
Die Frau auf dem Thron verzog abschätzig ihren Mund und sah stur an ihr vorbei.
„Gib her!“ Anna schritt auf sie zu und
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