Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
paar Schritte zurück, konzentrierte sich, nahm all seine Kraft zusammen und richtete sie auf die Wolke. Einige Sekunden lang konnte Anna dünne, leuchtende Fäden sehen, die aus seinen Fingern auf die Wolke zuströmten. Dann verschwand alles in einem nebelartigen Dunst. Es roch auf einmal nach Hühnerstall.
Als die Schwaden sich lichteten, sah sie etwas, das ihr den Atem stocken ließ. Die Jungmagierin schloss die Augen, schüttelte kurz und kräftig den Kopf, dann blickte sie wieder auf. Das seltsame Ding war immer noch da. Sie schnappte nach Luft, sah Ian perplex an, dann das, was statt der Wolke auf dem Tisch saß und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Es war etwas, das sie noch nie zu Gesicht bekam. Früher, als die Oberwelt noch intakt war und Anna immer wieder durch ihre Vielfalt und Einzigartigkeit überraschte, gab es öfter Neues aus Flora und Fauna zu bewundern. Doch dieses war ein Wesen, das ihre Vorstellungskraft an die Grenzen stoßen ließ. Die junge Frau stand auf, ging langsam um den Tisch, die Kreatur aufmerksam von allen Seiten begutachtend, machte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus und schloss ihn wieder.
Der Körper erinnerte an ein gerupftes Huhn und war so mager, dass man alle Rippen durch die silbrig blasse Haut auf seinem Rücken zählen könnte. Seine Füße mit fünf langen Fingern, verbunden durch die dünne hellgraue Haut, ähnelten Taucherschuhen. Sie waren in etwa so groß wie er selbst und hingen an knochigen Beinchen, die oben, an den Schenkeln doch etwas dicker wurden. Unterentwickelte Flügel ohne Federn waren hilflos zusammengeklappt und bewegten sich kaum. Die Ohren gerieten so groß, dass die Kreatur sich in den ledrigen Stoff einwickeln konnte. Sie schlug einige Male damit wie ein stolzer Hahn mit seinen Flügeln, rollte sie dann zusammen und stellte an den beiden Seiten seines Eierkopfes senkrecht. Als sie merkte, dass Anna sie argwöhnisch musterte, breitete sie die Ohren wieder aus und hüllte sich damit vollständig um. So ähnelte sie einem überdimensionierten Kokon eines exotischen Schmetterlings.
Nach einer Weile steckte das Wesen seine Hakennase von hinter dem Stoff seiner Ohren heraus, dann kamen die neugierigen Glupschaugen, die sich wie bei einem Chamäleon in alle Richtungen unabhängig voneinander drehen konnten. Die schmalen, farblosen Lippen reichten von einem Ohr bis zum anderen. Sie schienen in einem ewigen Lächeln erstarrt zu haben. So saß es auf dem Tisch, die Beinchen an Fußgelenken keck übereinander gekreuzt, die Ohren wieder wie die Segel ausgebreitet, und wandte seinen fragenden Blick von Ian zu Anna und zurück.
Die Jungmagierin schnappte nach Luft. Als das Wesen sie sich wieder zu ihr wandte, presste sie bissig heraus: „Guck mich nicht so an. Ich habe dich nicht erschaffen.“
Ian schüttelte seine Starre ab und lief zu ihm. Er schnappte es mit beiden Händen, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und drückte es fest an sich, als wenn es sein seit Kindestagen geliebtes und wieder gefundenes Teddybärchen wäre.
Es quietschte vergnügt.
„Du zerdrückst es noch“, brummte Anna. „Lass das Ding doch endlich los.“
Der junge Mann nickte, hielt das Wesen auf den ausgestreckten Armen und musterte es mit leuchtenden Augen voller Begeisterung. „Ist hübsch geworden, nicht wahr?“ Die Euphorie in seiner Stimme war kaum zu überhören.
Die Jungmagierin starrte die beiden noch einen Moment lang an und rang sich schließlich ein gequältes Lächeln ab. „J-ja, er ist hinreißend. Ein Traum aus Schönheit und Eleganz.“
„Sage ich doch“, seufzte er zufrieden. „Ich nenne ihn Gögling.“
„Ein würdiger Name“, nickte sie. „Passt zu seiner umwerfenden Erscheinung.“
Ian setzte ihn auf die linke Schulter.
Der Gögling rollte die Ohren wieder zusammen und schlug ein paar Mal mit den Füßen feierlich auf Ians Brust.
„Also er sagte gerade, dass der Name ihm gefällt. Und seine Gestalt auch“, verkündete Ian stolz.
„Na das ist ja die Hauptsache“, bemerkte Anna trocken. „Er muss ja damit leben.“ Sie blickte ihn fragend an. „Er spricht zu dir?“
„Ja, ich höre seine Worte in meinem Kopf. Du nicht?“
„Dafür müsste ich in deine Gedanken einsteigen. Das macht man gewöhnlich mit der Erlaubnis des Urhebers. Und ohne, nein, das habe ich nicht getan.“ Sie schüttelte kurz den Kopf. „Das bringt mich gerade zum Thema. Ich muss dir noch erklären, was es mit dem Gedankenlesen und Gedankenschließen
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