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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Essex Street auf die Interstate 93 in Richtung Süden, dann nach etwa neun Meilen bei der Ausfahrt 7 in Richtung Cape Cod und auf den Pilgrims Highway in Richtung Plymouth. Auf der Höhe von Marshfield beschloss ich, trotz der drückenden Hitze die Gelegenheit für eine Cabriotour zu nutzen. Bei Kingston verließ ich nach etwa fünfundvierzig Minuten Fahrt den Pilgrims Highway über die Ausfahrt 10, hielt auf dem Parkplatz einer internationalen Burgerkette an und öffnete trotz der Erwartung eines Klimaschocks das Verdeck. Langsam und mit einem leisen Summen setzte es sich in Bewegung und …
    … es war … angenehm … sehr angenehm.
    Die letzten Wochen hatte mich die von Abgasen verpestete Schwüle der Stadt begleitet. Aber hier draußen war von der Luftfeuchtigkeit keine Spur. Eine frische Briese wehte von der Kingston Bay herüber und ich atmete tief ein.
    Es war wunderbar. Ich tauchte ein in diese Frische und hatte das Gefühl das Salz der Meeresluft und das satte Grün der Bäume zu schmecken. Vögel zwitscherten. Der Himmel war klar und strahlte im Licht der Morgensonne in einem gelblichen Hellblau. Ich stieg aus, entledigte mich meines Jacketts und genoss für einen Moment die Sonne. Sie wärmte zart mein Gesicht und meine nackten Unterarme. Dann ging ich in das Restaurant, kaufte mir eine Cola, die ich zur Hälfte leerte, bevor ich wieder in den Wagen stieg. Dort nahm ich meine braun-melierte Wayfarer-Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, setzte sie auf, ließ den Motor aufbrummen und fuhr zurück auf die Summer Street in Richtung Plymouth.
    Auf der Straße galt eine Beschränkung von 35 Meilen pro Stunde, aber Tempolimits hatten für mich lediglich den Reiz, nicht erwischt zu werden. Ich stellte „Girls in their summer clothes“ von Bruce Springsteen ein, erhöhte die Lautstärke so weit, dass der Bass vibrierte, und beschleunigte innerhalb von Sekundenbruchteilen auf siebzig.
    Ich glitt dahin. Der Fahrtwind spielte in meinem Haar und liebkoste sanft meinen Oberkörper. Ich machte mir einen Sport daraus, die anderen Fahrer zu überholen und ließ manchmal gleich mehrere Fahrzeuge auf einmal an mir vorbeiziehen. Fantastisch!
    Gerade musste ich auf Vierzig verlangsamen, als ein greller Blitz mich blendete. Kurze Zeit später sah ich eine Motorradstreife mit Blaulicht hinter mir. Diese verdammten Wegelagerer!
    Ich fuhr an die Seite, hörte mir das mahnende Gefasel des Polizisten an und zahlte das Bußgeld ohne jegliche Anzeichen des Bedauerns. Der Ärger über die Vorladung brodelte in mir auf. Es war einfach nicht mein Tag. Ich setzte meinen Weg fort, fluchte und musste wieder an diese Gerichtskuh denken: „Oooh, das tut mir aber leid. Sie mussten leider ein Bußgeld zahlen. Oooh.“ Die sollte mir heute besser nicht dumm kommen.
    Ich war etwa zwanzig Minuten die Küstenstraße entlang geheizt, ohne in meiner andauernden Verärgerung die grandiose Aussicht über die Weite der Cape Cod Bay zur Kenntnis zu nehmen, als sich meinem Blick ein mannshohes weißes Holzschild mit dem Stadtwappen aufdrängte, dessen Aufschrift lautete:
    „Willkommen in South Port, Perle der Bucht“.
    Na hervorragend! Diese Perle wollte ich sehen - oder, wenn es sich vermeiden ließe, besser nicht sehen.
    Kurz darauf glitten die ersten Häuser der Perle an mir vorbei. Zunächst zurückgesetzt auf großflächigen Grundstücken, dann, je näher ich dem Ortskern kam, dichter zur Straße gelegen in engerer Bebauung. Die meisten waren mit Latten verkleidet und weiß gestrichen. Einige zeigten blasse Gelb-, Blau oder Grüntöne. Hier und da fand sich ein roter Backsteinbau. Fast alle verfügten über die typischen weißen Sprossenfenster und Fensterläden. Einige wenige hatten Gesimse über den Eingangstüren oder Säulenvorbauten. Die überwiegende Zahl aber war schlicht.
    Insgesamt machte die Stadt einen widerlich idyllischen Eindruck, der mich unangenehm an meine Kindheit erinnerte: malerischer Küstenort. Ordentlich, gepflegt, kleinstädtisch. Getrimmte Hecken, bunt bepflanzte Blumenkästen, baumgesäumte Straßen. Weiße Gartenzäune. Traditionell. Spießig. Borniert. Hier zu leben, war für den gemeinen Touristen wahrscheinlich ein Traum, für den Simpel, der hier lebte, Heimat. Für mich wäre es eine Ödnis der Mittelmäßigkeit.
    Allein der Park oder was sie hier Park nannten! Schon der Boston Common war nicht groß im Vergleich mit dem Central Park. Aber der Boston Common und Public Garden nahmen doch zumindest ein Vielfaches

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