Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
erwiderte Annabell verlegen und erhob ebenfalls das Glas. Ihr Ausdruck strafte ihre Worte Lügen. Sie schien überglücklich.
Das machte es noch schwerer, Lebewohl zu sagen.
Das Essen war köstlich und ließ nichts zu wünschen übrig. Nick zauberte uns ein leichtes siebengängiges Menü und kam nach der Hauptspeise persönlich an unseren Tisch, um Annabell und mich zu begrüßen. Erst danach begrüßte er den Senator und ich fragte mich im Stillen, wie der Maître diese Ehrung bewerkstelligt hatte.
„Es ist so ein wunderschöner Abend, Ethan. Vielen Dank. Ich kann es kaum fassen, dass wir hier essen.“ Annabell genoss den letzten Löffel ihrer Nachspeise. „Allein dieses Marzipanparfait. Und diese karamellisierten Rosenblüten. Ich habe noch nie Blumen gegessen.“ Sie war ganz aus dem Häuschen.
„Irgendwann ist immer das erste Mal“, erwiderte ich nonchalant und wurde mir wehmütig der Doppeldeutigkeit bewusst. Wenn ich sie nehmen wollte, wäre dieser Abend vermutlich der richtige Zeitpunkt.
Ganz allmählich senkte sich schließlich die Dämmerung herab und in einer wohlorchestrierten Folge wurden die modellierten Buchsbäume und Eiben rund um die Terrasse von unzähligen kleinen Lämpchen illuminiert, wie man sie von Weihnachtslichterketten kennt. Das Orchester begann zu spielen und die ersten Paare strömten auf die Tanzfläche.
Annabell betrachtete sie für eine Weile sehnsuchtsvoll.
„Würdest Du mit mir tanzen?“, fragte sie dann.
„Ach ich weiß nicht. Ich glaube ich habe ein paar linke Füße“, schwindelte ich.
In Wahrheit war ich ein exzellenter Tänzer. Aber wenn ich sie jetzt in dieser Umgebung im Arm hielte, könnte ich für nichts garantieren.
„Ach bitte, Ethan. Das wäre so ein schöner Abschluss für das Essen.“ Annabell sah mich flehentlich an. Sie war so jung, so hübsch.
„Also gut“, gab ich mich geschlagen, erhob mich und trat vor sie hin.
„Miss Annabell, wollen Sie mir die Ehre dieses Tanzes erweisen?“
Ich deutete eine Verbeugung an.
„Es wäre mir das größte Vergnügen.“
Ich reichte ihr die Hand zum Aufstehen, sie nahm sie huldvoll entgegen und gemeinsam schritten wir die Stufen zur Tanzfläche hinunter.
Das Orchester begann zu spielen und, während der Sänger zu “If you don’t know me by now“ ansetzte, begannen wir zu tanzen und in den Augen des anderen zu versinken. Annabells Duft umhüllte mich sanft und kaum merklich spürte ich ihren zarten Körper in meinem Arm erbeben, als die elektrische Spannung, die in der Luft lag, uns beide durchfloss.
Der Interpret sang vom Unterschied zwischen richtig und falsch - für mich war dieser Unterschied kaum mehr erkennbar. Wie konnte es richtig sein, dieses Mädchen nicht zu küssen, nicht zu lieben. Niemals zuvor hatte ich ein Mädchen auf diese Weise gewollt.
Doch es war ausgeschlossen. Es war falsch. Sie war und blieb meine kleine Schwester, ich ihr Vormund. Wir konnten keine gemeinsame Zukunft haben. Mochten die Inkas oder die alten Ägypter auch anders verfahren sein. In der modernen Wirklichkeit Neuenglands war unsere Beziehung undenkbar. Wie konnte ich etwas mit Annabell beginnen, das zum Scheitern verurteilt war?
Annabell legte den Kopf an meine Brust und seufzte.
Worüber mochte sie nachdenken? Ging es ihr wie mir? Fühlte sie denselben Schmerz, dasselbe Entzücken? Oder genoss sie lediglich einen wunderbaren Abend mit ihrem Bruder?
Ursprünglich hatte ich vorgehabt mich nur mit einem Tanz in Gefahr zu bringen, aber wir tanzten weiter. Erst einen zweiten Tanz, dann einen Dritten, mal langsam, mal schneller, mal zu zeitgenössischen Stücken, mal zu Klassikern. Ehe wir uns versahen, hatte sich die Nacht über Nick’s Restaurant gesenkt und die Tanzfläche und die Tische begannen, sich zu leeren.
„Wollen wir auch demnächst aufbrechen?“, fragte ich Annabell.
Ich wollte nicht gehen. Ich wollte immer so weiter mit ihr dahin schweben. Aber es wurde Zeit, diese Illusion, diesen Traum zu beenden.
„Noch einen letzten Tanz, ja?“
„Also gut.“
Als hätten sie es geahnt und als wollten sie meine innere Zerrissenheit bis zum äußersten treiben, begann das Orchester abermals zu spielen und der Sänger stimmte ‚Smoke gets in your eyes’ an.
„Ethan, ich …“ Annabell hob ihr Gesicht von meiner Brust und sah mich an. „ich habe lange darüber nachgedacht … ich wollte Dir sagen …“
In diesem Moment konnte ich es überdeutlich in ihren Augen lesen.
„Sag nichts, Annabell“,
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