Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
waren umständlich beim Wählen. Fräulein Tvilde verlor jedoch nie die Geduld. Sie wußte, wenn sie sich entschlossen, dann zahlten sie bar, nahmen die Waren selber mit und kamen nicht zurück, um zu tauschen oder sich zu beschweren.
Mit den Kunden vom Lande verstand Anne sich besonders gut
Es kam vor, daß diese Kunden Anne über Dinge um Rat fragten, die nicht das Geringste mit Schuhen zu tun hatten. „Du kannst uns vielleicht sagen, wo wir hingehen und einen Hut kaufen können, was? - Du bist doch sicher in der Stadt bekannt, könntest du uns nicht sagen, wo wir einen Happen essen können und nicht zu teuer?“ Dann erzählten sie auch treuherzig und ausführlich von Dingen daheim in ihrem Dorf. Anne antwortete verständnisvoll, während sie ihnen Schuhe überzog und wieder auszog.
Denn es blieb natürlich nicht bei den Hausschuhen. Anne machte Augen und Ohren auf. Es dauerte nur wenige Tage, da verkaufte sie schon ihr erstes Paar Schuhe. Sie merkte sich genau die Anordnung der Waren im Geschäft. Da gab es feste Straßenschuhe, nach Fabrikat und Größen geordnet, dort drüben waren die Gummischuhe, dann die leichteren Promenadenschuhe, und ganz hinten in der Ecke die Abteilung mit den eleganten Abendschuhen, die nur aus Absatz und Sohle bestanden und ein paar Riemen über Kreuz.
Fräulein Tvilde machte die gleiche Erfahrung wie seinerzeit Frau Aspedal: Sie brauchte Anne nur einmal etwas zu sagen, dann saß es.
In diesen letzten Tagen vor Weihnachten war im Geschäft ein ständiges Kommen und Gehen. Die Verkäuferinnen waren abgekämpft. Fräulein Tvilde selbst sah blaß und angegriffen aus. Anne taten die Beine weh. In der Regel machte sie in den ersten beiden Stunden ihres Dienstes Botengänge. In den beiden letzten half sie beim Bedienen. Viele Kunden hatten die gräßliche Angewohnheit, fünf Minuten vor Ladenschluß zu kommen.
Wenn sie dann sitzen blieben und endlos anpaßten, hielt es oftmals schwer, höflich und zuvorkommend zu bleiben. Anne war darauf erpicht, fortzukommen - zu Haus warteten ihre Aufgaben, die furchtbar schweren Schulaufgaben, die sie mindestens bis Mitternacht in Atem halten würden! Und für die sie einen klaren Kopf brauchte!
Ja, es war ein unmenschliches Geschufte! Aber es wurde besser, als sie Ferien bekam. Dann arbeitete sie allerdings den ganzen Tag, aber sie konnte jedenfalls zu Bett gehen, sobald sie nach Hause kam. Gewiß, es konnte geschehen, daß sie noch eine halbe Stunde strickte, ehe sie zur Ruhe ging. Denn die beiden Paar Fausthandschuhe mit eingestrickten Namen, „Edith Tvilde“ und „Britt Sander“, mußten zum Heiligabend fertig werden.
Das kleine gestrickte Deckchen mit „Pettie“ in der einen Ecke bekam sie an einem einzigen Abend fertig. Da brauchte sie nur rechts zu stricken, mit grobem Garn und dicken Nadeln; also das war keine anstrengende Sache!
Aber Fräulein Tvilde hatte nur zu recht gehabt. Anne wußte wirklich, daß sie allerlei fürs Geld getan hatte, wenn sie abends ein Kissen ans Fußende des Bettes legte, damit die Beine hochlagen. Denn sie waren wund und geschwollen von all dem Gerenne.
Sonst mochte sie die Arbeit gern. In den vier Tagen vor dem Fest, als sie ganztägig arbeitete, fühlte sie sich ausgezeichnet. Es machte ihr Spaß, im Stillen ihre Studien zu machen.
Ein paarmal kamen auch Bekannte. Eines Tages erschien eine von den Lehrerinnen des Gymnasiums, der Anne ein Paar Stiefeletten verkaufte. Und am Vormittag des Heiligabends kam die Klassenkameradin Vibeke und erstand ein Paar Abendschuhe. Sie war höchst erstaunt, als Anne sie bediente.
„Ach Anne, Anne“, sagte Vibeke, „mal bist du Hausgehilfin und mal Verkäuferin - das nächste Mal wirst du wohl erster weiblicher Orchesterdirigent des Landes sein!“
„O nein“, lachte Anne. „Höchstens die Frau des Dirigenten“, fügte sie leise hinzu und schob eine goldene Sandalette mit hohem Absatz auf Vibekes kleinen, nylonbestrumpften Fuß.
Bevor Anne am Heiligabend zu Britt ging, hielt sie in ihrem Stübchen eine kleine Feierstunde für sich allein ab. Sie packte die Pakete aus Möwenfjord und Kopenhagen aus. Und ihre Augen standen voll Tränen. Alle waren sie so gut zu ihr. Sie hatte die Sachen vorher noch gar nicht gesehen. Britt hatte das Paket für sie vom Zoll geholt, denn Anne hatte ja nicht eine Minute am Tage Zeit gehabt. Britt hatte aber alles hübsch wieder eingepackt, ehe sie es an Anne ablieferte. Da gab es tausend herrliche Dinge zum Essen, so viel, daß
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