Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
durchschaute die wahren Empfindungen eines schlauen und achtsamen Mannes, der ein Alter erreicht hat, in dem man um den Wert eines guten Leumunds weiß? Wie konnte sie je sicher sein, daß seine Läuterung echt war?
Mr. Elliot war verständig, besonnen, kultiviert – aber er war nicht offen. Er ließ sich zu keinem heftigen Gefühl hinreißen, weder der Entrüstung noch der Freude über das Böse oder Gute in anderen. Das war in Annes Augen ein entschiedener Makel. Ihre früheren Eindrücke ließen sichnicht so einfach auslöschen. Ein freimütiges, offenherziges, lebhaftes Naturell bedeutete ihr mehr als irgend etwas sonst. Impulsivität und Enthusiasmus zogen sie unverändert an. Es fiel ihr ungleich leichter, denen über den Weg zu trauen, denen zuweilen ein vorschneller Blick, ein unbedachtes Wort entschlüpfte, als denen, deren Geistesgegenwart nie versagte, denen nie ein Ausrutscher unterlief.
Mr. Elliot war zu allseitig gefällig. So unterschiedlich die Temperamente im Haus ihres Vaters auch waren, er wußte sie alle zu nehmen. Er schlug sich zu gut – stand zu hoch in jedermanns Gunst. Er hatte sich ihr gegenüber mit einiger Deutlichkeit über Mrs. Clay geäußert, ihr den Eindruck erweckt, als sehe er genau, worauf Mrs. Clay aus war, und als verachte er sie dafür; und doch fand Mrs. Clay ihn so liebenswürdig wie alle anderen.
Lady Russell merkte entweder weniger oder mehr als ihre junge Freundin, denn sie sah nichts, was ihr Mißtrauen erregt hätte. Sie konnte sich keinen vorbildlicheren Mann vorstellen als Mr. Elliot, und keine Hoffnung konnte süßer sein als die, ihre geliebte Anne im kommenden Herbst in der Kirche von Kellynch mit ihm vor den Altar treten zu sehen.
KAPITEL VI
Es wurde Anfang Februar, und Anne, die nun schon einen vollen Monat in Bath war, sehnte sich allmählich sehr nach Nachricht aus Uppercross und Lyme. Sie wollte viel mehr erfahren, als Mary berichtete. Drei Wochen war es her, daß sie zuletzt von ihr gehört hatte. Sie wußte nur, daß Henrietta wieder daheim war und Louisa trotz der raschen Fortschritte, die sie offenbar machte, noch immer in Lyme; und sie dachte eines Abends gerade wieder eingehend an sie alle, als ihr ein Brief von Mary gebracht wurde, ein dickerer Brief als sonst, und zu ihrer noch größeren Überraschung und Freude begleitet von den Grüßen des Admirals und Mrs. Crofts.
Die Crofts mußten in Bath sein! Ein Umstand, der Anne nicht unberührt ließ. Die Crofts waren Menschen, denen ihr Herz sich ganz natürlich zuwandte.
»Was höre ich da?« rief Sir Walter. »Die Crofts in Bath? Die Crofts, die Kellynch von mir mieten? Was haben sie dir gebracht?«
»Einen Brief aus Uppercross Cottage, Sir.«
»Ah, so ein Brief ist ein bequemes Eintrittsbillett. Damit sichert sich manch einer die Einführung. Ich hätte Admiral Croft aber selbstredend auch so besucht. Ich weiß schließlich, was ihm als meinem Mieter zusteht.«
Anne konnte nicht länger zuhören; sie hätte nicht einmal zu sagen gewußt, wie der Teint des armen Admirals wegkam; ihr Brief vereinnahmte sie ganz. Er war vor mehreren Tagen begonnen worden.
1. Februar —
Meine liebe Anne,
ich muß mich für mein Schweigen wohl nicht entschuldigen, denn in einer Stadt wie Bath denkt ja sowieso niemand an Briefe. Du bist bestimmt viel zu froh und glücklich, um groß nach Uppercross zu fragen, von wo es wie immer fast nichts zu berichten gibt. Wir hatten sehr langweilige Weihnachten, Mr. und Mrs. Musgrove haben während der ganzen Zeit kein einziges Mal Gäste eingeladen. Die Hayters zählen für mich nicht. Aber jetzt sind die Ferien endlich vorbei; ich habe noch nie Kinder mit derartig langen Ferien erlebt. Meine Ferien waren nie so lang. Seit gestern ist das Haus aber leer, bis auf die kleinen Harvilles; wobei Du sicher überrascht bist zu hören, daß sie noch immer hier sind. Mrs. Harville muß eine sehr sonderbare Mutter sein, daß sie sie so lange entbehren kann. Mir ist so etwas ein Rätsel. Wenn Du mich fragst, sind es auch ganz und gar keine netten Kinder, aber Mrs. Musgrove scheint sie genauso gern zu mögen wie ihre Enkel, wenn nicht sogar lieber. Was für ein gräßliches Wetter wir hatten! Ihr in Bath merkt davon wahrscheinlich gar nichts, mit Euren schönen gepflasterten Trottoirs, aber wir auf dem Land bekommen es sehr zu spüren. Mich hat seit der zweiten Januarwoche keine Menschenseele besucht, nur Charles Hayter war unangenehm häufig da. Unter uns gesagt finde ich es ja
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