Anne Frasier
lang hatte sie versucht, den Ekel anderer Menschen den Toten gegenüber zu verstehen, aber es gelang ihr nicht. Für sie war der Blick in einen menschlichen Körper nicht anders, als eine Blume zu zerlegen, um herauszufinden, wie sie aufgebaut war.
Ihre Eltern hatten diesen Drang nie verstanden, und bis heute fragte ihre Mutter sie, warum sie nicht als richtige Ärztin arbeitete, um Menschen zu helfen, statt sie aufzuschneiden, wenn sie schon tot waren. Das war für Eltern wahrscheinlich schwer zu verstehen, vermutete Bernie.
Sie begann an einer Schulter, knapp unterhalb des Schlüsselbeins, mit dem Einschnitt, zog eine Gerade bis zum Brustbein. Der Schnitt war tief, in einem Zug durchtrennte sie Haut, Fettgewebe und Muskeln. Auf der anderen Seite vollführte sie denselben Einschnitt. Dort, wo die beiden sich am Sternum trafen, schnitt sie senkrecht den gesamten Oberkörper hinunter, um den Nabel herum, bis zum Schambein. Mit einer Schere arbeitete sie sich dann durch die Rippenknorpel, bis sie den Brustkorb herausnehmen und beiseite legen konnte, um die darunterliegenden Organe zu betrachten.
Sie nahm Haut- und Gewebeproben, tat sie in kleine Gläschen mit Formaldehyd. Nachdem sie alle Proben hatte, goss sie aus einem Stahlkrug Wasser über die verbliebenen Organe.
»Absaugen.«
Der Assistent schälte eine Düse aus einer Plastikverpackung, schloss sie an den Schlauch eines Sauggerätes an, und stellte die Maschine auf mittlere Stärke. Er tupfte mit der durchsichtigen Plastikspitze, saugte um das Herz herum. Rosafarbene, blutdurchsetzte Flüssigkeit sauste durch den Schlauch und landete in einem mittelgroßen Behälter.
»Herz intakt. Platzwunden an Leber und Milz.«
Dr. Bernard drückte auf verschiedene Venen und Arterien, die flach wie Bandwürmer herumlagen. »Sie ist vollständig ausgeblutet. Haben Sie bemerkt, dass es kaum Leichenflecken gab? Sie hatte einfach kein Blut mehr im Körper das gerinnen konnte.«
»Ist sie verblutet?«, fragte Max.
»Ja.«
»Hätte man sie retten können?«, fragte die Frau, Ivy, flüsternd. Ihre Stimme zitterte leicht.
Bald kippt sie um, dachte Bernie ohne Missachtung oder Kritik. So war es einfach. Das Wesen der Welt, so wie der Mörder auch nicht anders gekonnt hatte, als diese Frau zu töten.
»Sie meinen, hätte sie gerettet werden können, wenn man sie rechtzeitig gefunden hätte?«
»Ja.«
»Na ja, mit der verletzten Leber und Milz, all den Wunden, ist das zu bezweifeln.« Was wollte sie hören? Wozu war das gut? Bernie stellte nie etwas in Frage, was schon geschehen war. Das war sinnlose Zeitverschwendung. Sie las auch keine Romane. Sie ging nicht mehr ins Kino. Kunst und Musik brachten ihr nichts. Sie lebte in der Wirklichkeit, einem Ort, der ihr gefiel. Sie hatte viel Zeit damit verschwendet, Filme und Fernsehsendungen durch die Augen anderer zu sehen und zu versuchen, ihre Mitmenschen zu verstehen.
Falsch. All das war falsch. Vor allem, wie sie den Tod darstellten. Der Tod war die völlige Abwesenheit der Seele - etwas, was man nicht spielen konnte, egal wie gut man als Schauspieler war.
»Es ist zu bezweifeln«, sagte sie und dachte weiter über die Frage nach. »Aber vielleicht schon«, entgegnete sie wahrheitsgetreu. »Wenn er ihr nicht die Luftröhre zerdrückt hätte. Er hat sichergestellt, dass sie nicht noch zum Telefon kriecht und 911 wählt.« Sie griff nach der Knochensäge, die an einem Flaschenzug über ihrem Kopf hing. »Die folgende Prozedur hat meinen Studenten nie besonders gut gefallen.« Neun von zehn wurden ohnmächtig, wenn sie das erste Mal sahen, wie man einen Hals auseinander nahm.
Sie würde nett sein und Dunlap warnen. Und sie musste anerkennen, dass sie es immerhin bis hierher geschafft hatte. Das gelang nicht vielen. Sie konnte sich sogar noch an einen ganz bestimmten Detective erinnern, der ihr vor nicht allzu vielen Jahren auch fast ohnmächtig geworden wäre. »Ich wollte Sie nur warnen.«
Manchmal sagte sie nichts. Manchmal fing sie einfach an zu sägen. Aber heute war ihr nicht danach, gemein zu sein, also sagte sie Bescheid. Und Dunlap schaute tatsächlich schon ein bisschen geschafft. Bernie sah Max an, zog eine Augenbraue hoch. Aber vielleicht wollte er ja auch, dass sie umkippte, um sie auffangen zu können. Vielleicht ging es nur darum.
Er sah sie durch seinen Schutzschild an, und seine steinerne Miene blieb
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