Anne Frasier
bösartiger. Dann nannten sie ihn Schwuli und Tunte.
Dabei mochte er keine Jungs.
Er hatte keine Ahnung, warum alle glaubten, dass er auf Jungs stand. Er mochte auch keine Mädchen. Er hasste alle gleichermaßen.
Über sich konnte er seine Mutter schnarchen hören. Sie schlief wie ein Baby.
Sie begann, sich an die Arzneien zu gewöhnen, aber sie sollte noch ein paar Stunden pennen. Gestern hatte sie ihm fast einen Herzanfall beschert, weil sie unerwartet aufgewacht war, also hatte er ihre Dosierung noch mal hochgesetzt.
Sie hatte mal jemand verklagt. So war sie zu dem Haus gekommen. Sie war betrunken gewesen, aus einer Bar gekommen, gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen - viermal. Sie hatte operiert werden müssen und Metallnägel eingesetzt bekommen. Sie verklagte den Besitzer der Bar, und seitdem saß sie bloß den ganzen Tag da, glotzte TV und besoff sich.
Aber er hatte Wichtigeres im Kopf als seine Mutter.
Um genau sechs Uhr abends schaltete er den Kassettenrekorder aus und zog seine Kopfhörer herunter, so dass sie um seinen Hals hingen. Er schaltete die Regionalnachrichten ein. Er schaute immer sehr aufmerksam die Nachrichten.
Er hatte immer gehofft, die Hauptnachricht zu sein, aber leider war das nur selten der Fall. Normalerweise wurden die Berichte über ihn von den Medien begraben; was im Rest Welt geschah, war ihnen wichtiger als seine Bereinigungen. Gott, das war frustrierend.
Heute war es anders.
Heute war seine Nacht.
Die blonde Nachrichtensprecherin saß an ihrem riesigen Studiotisch, hinter sich eine nachgemachte Skyline Chicagos. Die Kamera zoomte so nah heran, dass ihr Gesicht den Bildschirm ausfüllte.
Sie erschien auf eine puppenartige Weise hübsch, Makeup und Haar waren perfekt, ihre Perlenkette wirkte gleichermaßen verführerisch und steril.
»Das Chicago Police Department bittet die Bürger um Mithilfe dabei, den Mörder von zwei Müttern und ihren Söhnen zu finden, die vor Kurzem im Großraum Chicago getötet wurden. Die Identität des Mörders ist noch unbekannt, doch man geht davon aus, dass er auf dem Unterarm ein Rosen-Tattoo trägt.«
Das Bild der Nachrichtensprecherin wurde ersetzt durch das eines Rosen-Tattoos, durch das sich der Schriftzug Mutter zog.
»Wenn Sie jemanden mit einer solchen Tätowierung kennen, oder jemanden kennen, der in der Vergangenheit ein derartiges Tattoo trug, wenden Sie sich bitte an das Chicago
Police Department. Die Polizei bittet ausdrücklich darum, dass Sie sich der Person nicht selbsttätig nähern. Bitte rufen Sie stattdessen die Nummer an, die eingeblendet wird.«
Adrenalin rauschte durch seine Venen. Eine Spur. Nach all den Jahren hatten sie eine Spur. Wie aufregend. Spannend. Er ließ sich auf die Knie fallen und bedeckte den Mund mit beiden Händen, erstickte den Klang seines Gelächters. Sein Herz klopfte wie verrückt. Seine Gedanken verknäuelten sich. Woher wussten sie von dem Tattoo? Woher wusste das jemand? Denk nach. Denk nach.
Der einzige Mensch, der es überhaupt mit dem Madonna-Mörder in Verbindung hätte bringen können, war Claudia Reynolds, die Hure, die lange genug gelebt hatte, um mit der Polizei zu reden. Aber falls sie sein Tattoo gesehen hatte, warum war dieses Wissen nicht vor sechzehn Jahren öffentlich gemacht worden? Nein. Es musste eine neuere Erkenntnis sein. Denk. Denk nach. Ivy Dunlap.
Er wusste nicht, warum ihm ihr Name in den Sinn kam, aber so war es. Was hatte sie mit dem Fall zu tun? Die Antwort war irgendwo. Er musste sie nur finden. Musste darauf kommen. Und das würde ihm gelingen. Er war klug. Sehr klug.
Er richtete sich auf und öffnete seinen Spind, entfernte schnell das Kombinationsschloss. Dann nahm er vorsichtig eine Schuhschachtel aus dem obersten Regal. Er setzte sich auf sein Bett und nahm den Deckel ab. Darin lag ein baby-blaues Tuch.
Er nahm das Tuch hoch und wickelte das Ding aus, das sich darin befand, hob es ans Licht.
Er wusste gar nicht, warum er sich die Tätowierung überhaupt hatte machen lassen. Er vermutete, es war sein letzter
Versuch gewesen, die Kuh oben zufriedenzustellen. Aber es hatte ihr nicht gefallen. Gar nicht. Sie hatte einen Blick darauf geworfen, gegrunzt und gesagt, sie hoffte, er hätte dafür kein Geld bezahlt.
Es hatte sich gut angefühlt, es herauszuschneiden, es aus seinem Körper zu entfernen. Hinterher, als das Blut über seinen Arm lief, von seinen Fingerspitzen troff, hatte er überlegt, das Tattoo zu zerhacken. Er konnte Spaghettisoße damit
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