Anne Gracie
Papa von vornherein seine Tochter besser
beschützt hätte, dachte Harry wütend.
„Aber Sir
... ich meine, der Mann weigerte sich gegen Papa anzutreten. Er nannte ihn
einen armseligen Versager, aber er wusste, worum es ging.“
„Er weiß
also von dem ...“
„Er weiß
gar nichts“, stritt sie vehement ab. „Er weiß nicht einmal, dass ich
überhaupt schwanger wurde. Papa hatte ihn, schon geraume Zeit bevor ich mir
über ... meinen Zustand bewusst wurde, gefordert.“
„Ich
verstehe.“
Sie warf
ihm einen Blick von der Seite her zu. „Und wenn ich dir den Namen verriete,
würdest du wahrscheinlich das Gleiche tun wollen wie Papa, nicht wahr?“
Nicht ganz,
dachte Harry. Er würde diesen Abschaum nicht unter irgendeinem Vorwand zu einem
Duell unter Gentlemen fordern und dann kampflos aufgeben, wenn der Schurke
ablehnte. Er würde den Kerl einfach nur zu Brei schlagen.
Sie musste
ihm seine Gedanken vom Gesicht abgelesen haben, denn sie nickte. „Nur zwei
Menschen außer mir haben erfahren, wer der Vater meines Kindes ist, und der
eine davon war Papa. Er – der Mann – hat keine Ahnung und so soll es für mich
auch bleiben. Es ist besser so für alle, vor allem für Torie.“
Das konnte
Harry sogar verstehen. Ihre Tochter sollte nie erfahren, dass sie das Kind
eines Vergewaltigers war. Wer würde so etwas
seinem Kind schon zumuten wollen? Trotzdem ließ die Frage Harry nach wie vor
keine Ruhe. Wer zum Teufel war das Schwein?
Um eins kehrten sie wie verabredet in die
Mount Street zurück. Er hatte auch Rafe und Luke zum Lunch gebeten, um zu
hören, was sie in Erfahrung gebracht hatten.
Nell fühlte
sich mutlos und bedrückt. Die von Harry am Anfang ihrer Suche
zusammengestellte Liste mit den Orten, wo sie suchen wollten, wurde immer
kürzer. Sie hatten jetzt schon ein so weites Gebiet abgedeckt, doch noch immer
gab es kein Lebenszeichen von Torie.
Außerdem
war sie zornig auf Harry. „Woran siehst du, dass das nicht Torie ist?“,
hatte er sie nach dem letzten Baby gefragt. „Für mich sehen Babys alle gleich
aus.“
Natürlich
sahen Babys keineswegs alle gleich aus, und sie war so aufgebracht über seine
Unterstellung, sie könne ihre eigene Tochter nicht erkennen, dass sie ihn
heftig angefahren hatte. Den Rest des Heimwegs legten sie schweigend zurück.
Doch mit
dem Schweigen war das Grübeln gekommen, und mit dem Grübeln eine schreckliche
Erkenntnis.
Harrys
Bemerkung war natürlich vollkommen unschuldig gewesen, sie wusste, dass er
sich gar nichts dabei gedacht hatte. Das Problem war jedoch: Seine Worte hatten
den Schorf über einer seelischen Wunde abgekratzt, den sie bis dahin immer zu
ignorieren versucht hatte – obwohl die Ängste und Zweifel darunter allmählich
zu eitern begannen.
Würde sie
tatsächlich ihr eigenes Kind wiedererkennen? Ihr Herz sagte Ja, aber je mehr
winzige, runde Gesichtchen sie sah, mit Flaum auf dem Kopf und kleinen Mündern
wie Rosenknospen, desto stärker wurden ihre Zweifel ...
Babys
veränderten sich so sehr in sechs Wochen.
Nach dem Mittagessen, das in einer
leicht angespannten Atmosphäre eingenommen worden war, entführte Lady Gosforth
Nell, damit sie für ihre Aussteuer Maß nehmen ließ.
Nell mochte
hübsche Kleider genauso gern wie jede andere Frau, aber im Moment zermürbte sie
das Theater um ihre Person. Sie vermaßen wirklich alles an ihr. Die dünne,
wahnsinnig stilvoll gekleidete Schneiderin fuchtelte mit einem Maßband herum
und diktierte ihrer Helferin in rasendem Tempo Zahlen auf Französisch. Dann
wurden Nells Waden und Füße vermessen und eine Schablone gezeichnet. Nells Kopf
erging es ähnlich, und mehrere Hüte wurden in Auftrag gegeben, darunter auch
einer zum
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