Anne Gracie
Ausreiten.
Nell ließ
alles ziemlich schweigsam über sich ergehen. Sie versuchte, so höflich und
entgegenkommend wie möglich zu sein, aber es gelang ihr nicht, sich zu
konzentrieren. Die meisten Entscheidungen überließ sie Lady Gosforth, Cooper
und Bragge.
Sie war
todunglücklich. Was, wenn Torie unter den Babys gewesen war, die sie sich
angesehen hatte, und von ihrer eigenen Mutter nicht erkannt worden war?
Die
Schneiderin, deren Gehilfin, die Modistin und der Schuhmacher merkten nicht,
dass mit der Braut etwas nicht stimmte, aber Lady Gosforth entging derlei
nicht, und sobald sie allein waren, zog sie Nell mit sich auf das Sofa. „Was
ist los?“, wollte sie wissen und durchbohrte ihre zukünftige Nichte mit
scharfen Blicken.
„Was soll
sein?“, wich Nell aus.
„Versuchen
Sie gar nicht erst, bei mir mit diesem Unsinn anzufangen, junge Dame! Meinen
Sie etwa, nur weil ich zum Lesen eine Lorgnette benötige, könnte ich das
Offensichtliche nicht erkennen? Was immer es ist, das Sie und meinen Neffen
jeden Tag aus dem Haus treibt, hat nichts mit Harrys Besitz zu tun. Es geht nur
um Sie. Ich sehe ihm das an.“
Nell nagte
an ihrer Unterlippe.
Lady
Gosforth fuhr fort: „Gestern Abend sahen Sie beim Nachhausekommen
richtiggehend krank aus, und vorhin seid ihr beide mit langen Gesichtern
zurückgekehrt. Und Sie, mein Mädchen, haben die Auswahl von bildschönen
Kleidern – Kleidern, für die andere Mädchen in Ihrem Alter alles geben würden –
über sich ergehen lassen wie ... wie einen Besuch beim Zahnarzt. Also ...“
Sie wartete.
Nell wusste
nicht, wo sie anfangen sollte. Sie hatte Lady Gosforth schon längst von ihrer
Tochter erzählen wollen, es hatte sich nicht
gut angefühlt, ihr die Geschichte zu verschweigen. Jetzt war sie erleichtert,
dass der Moment gekommen war, aber die Geschichte war so kompliziert, Nell
hatte keine Ahnung, wie sie den Anfang finden sollte.
Lady
Gosforth griff nach ihrer Hand. „Hören Sie, meine Liebe“, sagte sie mit
viel weicherer Stimme, „ich hatte nie eine Tochter, obwohl das mein größter
Wunsch im Leben war. Sie wiederum scheinen keine Mutter mehr zu haben, daher
...“
Nell brach
in Tränen aus.
Als Harry
kam, um Nell abzuholen – er hatte sich schon gefragt, was sie aufgehalten haben
mochte –, hatte seine Verlobte sich bereits am üppigen mütterlichen Busen
seiner Tante ausgeweint und ihr den größten Teil der Geschichte erzählt.
Sobald er
eintrat, sprang sie auf. „Ist es Zeit aufzubrechen?“, fragte sie.
Harry
blickte stumm in ihre roten, verweinten Augen.
„Es ist
alles gut, Harry“, erklärte Lady Gosforth. „Nell hat mir alles erzählt.
Danach haben wir beide tüchtig geweint, was uns enorm gutgetan hat, obwohl du
das wahrscheinlich nicht glaubst bei unserem Anblick. So, und jetzt macht euch
auf den Weg und findet dieses Baby.“
Gemeinsam
gingen sie zur Haustür, vor der der Zweispänner schon wartete. Lady Gosforth
umarmte Nell rasch. „Sie werden sie erkennen, wenn Sie sie sehen, meine Liebe,
da bin ich mir ganz sicher. Also seien Sie unbesorgt.“
Harry sah
Nell erschrocken an. „Warst du deswegen vorhin so unglücklich? Weil du Angst
hattest, du könntest Torie nicht wiedererkennen?“
Sie nickte
kläglich. Er legte den Arm um sie und sagte nichts.
Nach einem weiteren langen,
ergebnislosen Tag kehrten sie spät am Abend nach Hause zurück. Während des
ganzen Abendessens versuchte Harry, Nell etwas aufzuheitern, aber der Stachel
des Zweifels hatte sich in ihrem Herzen eingenistet.
Sie wusste
nicht, wie sie damit leben sollte, wenn sie ihre Tochter tatsächlich verloren
hatte. Wenn sie doch nur in jener Nacht mit Torie im Arm geschlafen hätte,
statt sie in ihrem Korb zu las sen ... Es würde sie in
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