Anne Gracie
Harry Morant jedoch hatte einen Beweis erbracht.
Einen eindeutigen Beweis.
Ihre Hand
prickelte immer noch.
Aber ganz
gleich, wie groß die Versuchung sein mochte, eine Heirat kam einfach nicht infrage.
Sie konnte die Entscheidung nicht treffen, um die er sie bitten würde, sobald
er Bescheid wusste. Ihr war zum Weinen zumute, doch sie hatte keine Tränen
mehr.
Es bestand
kein Zweifel wofür – für wen – sie sich entscheiden würde, aber es war so schwer.
Der schönste Mann, den sie je im Leben gesehen hatte, wollte sie. Jede
Faser ihres Körpers vibrierte vor Wonne darüber, dass er sie begehrte.
Es gelang
ihr, seine Verneigung mit einem leichten Nicken zu quittieren. „Ich danke
Ihnen“, brachte sie erstickt hervor, „doch meine Antwort bleibt
dieselbe.“ Mit hoch erhobenem Kopf schaffte sie es, sich umzudrehen und
einigermaßen würdevoll davonzugehen.
Sie spürte,
dass er ihr nachsah. Eine Frau konnte sich endlos in der verhaltenen
Leidenschaft dieser grauen Augen verlieren. Genau das war auch ein Teil des
Problems.
Nell hatte
viel ertragen im Leben und wusste, dass sie stark war. Sie verfügte vielleicht
nicht über Schönheit, dafür aber über Stärke.
Nichts und niemand konnte ihr diese Stärke nehmen – nicht einmal dieser Mann.
Aber er
konnte ihr mühelos das Herz brechen. Und genau das würde geschehen, wenn er
herausfand, was sie getan hatte – dass sie eine uneheliche Tochter zur Welt
gebracht hatte, die sie mehr liebte als ihr Leben.
Wenn Harry
Morant, der sein Leben lang versucht hatte, den Makel seiner Geburt zu
überwinden, davon erfuhr, würde er sich von ihr abwenden. Und das würde ihr das
Herz brechen.
Wenn es
nicht schon längst geschehen war ...
Bislang
hatte Nell sich nie für einen Feigling gehalten. Doch als sie jetzt von Harry
Morant fortging, mit so hoch erhobenem Kopf, dass er bestimmt glaubte, das eben
Vorgefallene bedeute ihr nicht das Geringste, musste sie es sich eingestehen –
sie war ein Feigling. Durch und durch.
4. Kapitel
ell saß eingezwängt zwischen einem
großen Mann, der den
Geruch von Gewürznelken verströmte, und einem noch
größeren, der nach Zwiebeln roch. Ihr war ein wenig übel. Das lag allerdings
nicht an dieser Geruchskombination, sondern vielmehr daran, dass sie ihr
Zuhause für immer hinter sich ließ.
Ihr Zuhause
und alle ihre Mädchenträume.
Ihre Träume
waren gar nichts Besonderes gewesen, sie hatte von einem Mann geträumt, den sie
liebte, und davon, Pferde zu züchten. Und von Kindern ...
Torie.
Nell saß
mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Durch das hintere Fenster der Kutsche sah
sie, wie das Dorf immer kleiner wurde, bis sie schließlich nur noch die
Kirchturmspitze erkennen konnte.
Die
Postkutsche holperte schwankend über die morastige Straße. Sie war nur
geringfügig schneller als das Fuhrwerk, mit dem Nell angekommen war, dafür war
sie wesentlich wärmer und trockener.
Ihre beiden
Sitznachbarn hatten es sich bequem gemacht, mit weit auseinandergestellten
Knien und locker herabhängenden Armen, während sie zwischen ihnen eingequetscht
saß. Ihr gegenüber saßen zwei Paare; die beiden Männer nahmen doppelt so viel
Platz ein wie ihre Ehefrauen, obwohl diese ziemlich stämmig waren und einer der
Männer ausgesprochen mager war. Warum nur nahmen Männer eigentlich immer mehr
Raum ein, als ihnen zustand? Zumindest hielten sie Nell dadurch warm,
ungeachtet des Nelken- und Zwiebelgeruchs.
Und sie war
auf dem Weg nach London, wenn auch nicht auf dem direkten. Die Vereinbarung
lautete, dass sie ihre neue Arbeitgeberin in
Bristol treffen und dann zusammen mit Mrs Beasley nach London reisen sollte.
Dort ...
dort würde sie die Suche wieder aufnehmen, die Suche nach ihrer Tochter.
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