Anne Gracie
Nach
Torie.
Sie hatte
so schreckliche Sehnsucht nach ihr, dass sie einen pochenden Schmerz in ihren
Brüsten spürte. Sie hätte die straffe Bandage darum abnehmen sollen, bevor sie
die Reise antrat. Sie hatte schon lange keine Milch mehr.
Aber ach,
wie sehr sie sich nach ihrem Baby verzehrte, nach ihrer heiß geliebten winzigen
Tochter! Nell hatte die Bandagen beibehalten, weil sie nicht auch noch diese
letzte, zerbrechliche Verbindung zu ihrem Kind verlieren wollte, das ...
irgendwo war.
Verloren.
Geraubt.
Victoria
Elizabeth ... Torie, nach Nells Mutter.
Nell
verschränkte die Arme vor den Brüsten. So viele unbeantwortete Fragen brannten
ihr auf der Seele. Wer stillte jetzt ihre kleine Torie? Wurde sie überhaupt
gestillt? Oh Gott, lass sie am Leben sein, betete Nell.
Dieser
quälende Gedanke begleitete sie ständig, wie ein Stachel in ihrem Bewusstsein,
Tag und Nacht. Die Angst, dass Torie wie alle anderen in ihrer Familie ...
Nein! So durfte sie nicht denken.
Papa war
fehlgeleitet gewesen, aber nicht böse.
Trotzdem
hatte er nicht das Recht gehabt, ihr das Baby wegzunehmen, es ihr zu stehlen,
mitten in der Nacht. Wenn sie nur geahnt hätte, was er vorhatte! Aber er hatte
es mit keinem Wort erwähnt. Hätte sie es gewusst, hätte sie mit allen Mitteln
um ihre Tochter gekämpft.
Die
Schuldgefühle brachten sie fast um. Sie hätte niemals einschlafen dürfen. Doch
nach der Geburt hatte sie Fieber bekommen und war so müde gewesen, so
entsetzlich müde ...
Was hatte
Papa mit ihrer Tochter gemacht? Wohin hatte er sie gebracht?
Man hatte
ihn tot an einer Straßenkreuzung aufgefunden, auf dem Rückweg von London. Tot –
und das Wissen um den Verbleib ihres Babys hatte er mit ins Grab genommen.
Tote
Menschen redeten nicht mehr.
Sie wusste,
warum er es getan hatte. Er hatte es ihr gesagt, als er sie das erste Mal
wieder besuchen gekommen war, nachdem er sie vorher für fast sechs Monate
weggesperrt hatte. Zu ihrem eigenen Besten. Um ihren guten Ruf zu retten.
Damit sie nicht unter seiner schlechten Menschenkenntnis zu leiden hatte ...
Sie hatte
abgelehnt und ihm geantwortet, sie wollte ihr Kind behalten. Dass sie Torie
liebte.
Er wiederum
hatte ihr versichert, sie müsste nicht mit den Konsequenzen seiner Fehler
leben. Sie könnte ein neues Leben anfangen, alles hinter sich lassen,
vergessen ...
Als ob Nell
je das Baby hätte vergessen können, das sie all diese langen Monate unter dem
Herzen getragen hatte. Für Nell stand Torie in keinem Zusammenhang mit dem
schrecklichen Erlebnis, mit dem alles angefangen hatte und für das Papa sich
die Schuld gab.
Es stimmte,
als sie gemerkt hatte, dass sie schwanger war, da hatte sie „es“ gehasst
und gewünscht, „es“ wäre niemals empfangen worden, doch dann, als sie zum
ersten Mal dieses ganz zarte Flattern in ihrem Leib gespürt hatte ...
Noch nie
hatte sie etwas Derartiges empfunden.
Sie wusste
noch, wie sie die Hand auf die Stelle gelegt und atemlos gewartet hatte, bis
dieses Flattern sich wieder regte. Und da hatte sie plötzlich nicht mehr nur
irgendein „es“ in ihrem Bauch gehabt, sondern ein Baby. Ein winziges,
unschuldiges Baby.
Ein Kind,
das nichts zu tun hatte mit dem hässlichen Ereignis, durch das es zustande
gekommen war. Da waren nur noch Nell und ihr Baby gewesen.
In den
langen, einsamen Monaten in diesem fremden Haus, in das Papa sie gebracht
hatte, weggesperrt mit lauter fremden Menschenfreundliche Fremde, aber dennoch
Fremde –, hatte sie sich immer mehr in das kleine hilflose Geschöpf verliebt,
das in ihr heranwuchs, sich bewegte, trat und zunehmend eins mit seiner Mutter
wurde.
Nells Baby,
Nells Kind. Nur ihres.
Sie hatte
oft stundenlang im Sessel am Fenster
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