Anne Gracie
gesessen – hinauszugehen erlaubte man ihr
nicht, aus Angst, sie könnte gesehen werden –, während Freckles neben ihr
döste. Freckles war die einzige Freundin von zu Hause, deren Gesellschaft Papa
erlaubte. Er vertraute nicht einmal Aggie, dass sie den Mund halten würde. Nell
sollte bei Fremden und unter einem falschen Namen versteckt werden. Nein, Papa
wollte sie nicht unter seinen Fehlern leiden lassen ...
Als ob sie
nicht gelitten hätte, weggesperrt von allem, das sie kannte und liebte,
Freckles ausgenommen! Typisch Papa, die Stalltüren erst dann zu schließen, wenn
die Pferde längst ausgerissen waren.
Und so saß
sie da mit Freckles, träumte davon, wie alles werden würde, und schmiedete
Pläne. Sie wollte das Baby nach Hause, nach Firmin Court, bringen, wo Mama zur Welt
gekommen war. Sie würde ihr alles beibringen, was Mama Nell auch beigebracht
hatte – und noch mehr, denn Mama war gestorben, als Nell erst sieben gewesen
war.
Ihr. Irgendwie hatte sie nie geglaubt,
dass es ein Junge sein würde. Doch das war ihr im Grunde gleichgültig gewesen.
Sie wusste nur, dass sie ihr Kind liebte.
Und dann
diese lange, einsame Nacht in Wehen, als Schmerzwelle um Schmerzwelle sie
durchzuckte, bis sie glaubte, daran sterben zu müssen, genau wie Mama.
Schließlich, im Morgengrauen, als sich der Himmel am Horizont golden färbte,
hatte sie ihr Baby.
Ihre
Tochter. Ihre geliebte, wunderschöne Torie ... ein winziges, energisch
brüllendes Wesen mit rotem Gesicht, einem Flaum goldblonder Haare, einem Mund
wie eine zornige, süße Rosenknospe und winzigen zu Fäusten geballten Händchen.
Als die
Hebamme das kleine Geschöpf dann an Nells Brust legte, verstummte das zornige
Brüllen schlagartig, und als das Baby zu saugen begann, durchströmte Nell eine
so grenzenlose Liebe, dass sie das Gefühl hatte, vor Liebe, Glück und Stolz
platzen zu müssen. Sie hatte eine Tochter.
Sie drückte
Torie an sich und flüsterte in das zarte, vollkommen gerundete Ohr, dass sie
sie für immer lieben und niemals verlassen würde ...
Zwei Wochen
später jedoch kam Papa; es war sein erster Besuch, seit er sie vor all diesen
Monaten in diesem Haus zurückgelassen hatte, und am darauffolgenden Morgen
waren er und ihr Baby fort gewesen.
Sie quälte
sich mit Selbstvorwürfen. Sie hätte es wissen, daran denken, es ahnen müssen.
Aber sie hatte ihm doch gesagt, dass sie ihr Baby liebte! Sie hatte ihm
ihre wunderschöne Tochter gezeigt und ihm voller Stolz erklärt, dass sie sie
Torie nennen würde – Victoria Elizabeth –, nach Mama.
Und Papa
hatte geweint und gesagt, Nell wäre sein gutes, tapferes Mädchen und er würde
alles wieder gutmachen.
Ihr war
nicht klar gewesen, wie er das gemeint hatte. Was Nell betraf, so war für sie
bereits alles gut. Das Kindbettfieber klang ab und sie strömte förmlich über
vor Liebe zu ihrer Tochter und zur ganzen Welt. Ihr Baby war kräftig und
gesund, alles andere zählte für sie nicht. Es machte ihr nichts aus, nicht
verheiratet zu sein. Es störte sie auch nicht, wenn die Leute das herausfanden.
Wichtig war für sie nur ihre Tochter.
Außerdem
versprach Papa ständig, alles wieder gutzumachen. Er hielt diese Versprechen
nie, also dachte sie sich auch nicht weiter etwas dabei.
Aber ach,
was für ein Fehler das gewesen war!
Wie üblich
sah Papa nur das, was er sehen wollte, und in Nells Baby sah er nur ein Kind
der Schande, einen Makel – einen Irrtum, für den er sich selbst die Schuld gab.
Und so war
er nachts, als sie schlief, in ihr Zimmer geschlichen und hatte den Irrtum
entfernt, nur einen Brief zurücklassend, in dem er sie aufgefordert hatte, es
zu vergessen.
Es, nicht sie. Als ob sie das gekonnt
hätte. Als ob irgendjemand das gekonnt
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