Anne Gracie
dem
Land war es nicht wie in London, wo gelangweilte adelige Damen sich einen
amourösen Zeitvertreib suchten und jeder blind die Augen davor verschloss. In
London konnte ein Mann in einem diskreten Haus, von dem niemand etwas wusste,
eine Geliebte aushalten und sie dort besuchen, wann immer er wünschte.
Auf dem
Land wusste jeder alles vom anderen.
Es ging ihm
gar nicht so sehr um Ehrbarkeit; ihm war es gleichgültig, was die Leute über
ihn dachten. Zumal ohnehin nur die wenigsten dem Mann einen Vorwurf machten.
Der Frau
jedoch ...
Er hatte
nur wenige Erinnerungen an seine leibliche Mutter, sie war gestorben, als er
noch ein kleiner Junge gewesen war. Doch das Wort „Hure“ hatte er schon
als Kleinkind gelernt, denn das hatten die Leute auf der Straße ihr immer
wieder nachgerufen, manchmal laut und offen, manchmal leise hinter ihrem
Rücken. Die Hure des Earls und ihr kleiner Bastard ... Damit war Harry gemeint.
Vom Gesetz
her war er nicht einmal ein richtiger Bastard. Sein leiblicher Vater hatte
seiner schwangeren Bediensteten eine großzügige Mitgift zukommen lassen und
der Dorfschmied, Alfred Morant, hatte sie lange vor Harrys Geburt geheiratet.
Dennoch
nannten die Leute Harry einen Bastard.
Und wenn
der Schmied – Harry sprach nie seinen Namen aus – zu viel getrunken hatte, was
oft der Fall gewesen war, dann nannte er seine hübsche blonde Frau ebenfalls „Hure“
und rammte seine großen, derben Fäuste in ihr zartes weiches Fleisch.
Sobald ihr
Mann zu trinken anfing, sperrte Harrys Mutter den Kleinen weg, damit ihm die
gebrochenen Knochen und Blutergüsse erspart blieben, die sie erleiden musste.
Der Schmied hatte einmal durch einen bösartigen Tritt Harrys Hüfte gebrochen,
weshalb er bis zum heutigen Tag hinkte. Nach diesem Vorfall hatte seine Mutter
alle Prügel auf sich genommen.
Es ist nur,
weil Alfred mich liebt, pflegte Mama Harry hinterher weinend zu beteuern.
Alfred hatte sie schon immer gewollt und geliebt, er war nur wütend, weil der
Earl sie zuerst gehabt hatte ... Aber was hätte sie tun können? Er war nun
einmal der Earl.
Mama war
gestorben, als Harry fünf oder sechs gewesen war. Ein Fausthieb zu viel, und
das ungeborene Kind war mit ihr gestorben. „Wessen Kind ist es dieses Mal,
Hure?“, hatte er sie angebrüllt, obwohl Mama nie einen anderen Mann auch
nur anblickte. Sie hatte nicht einmal mehr das Haus verlassen – sie konnte es
nicht ertragen, dass die Dorfbewohner ihre Blutergüsse bemerkten und sie
ansahen, als hätte sie jeden einzelnen davon bestimmt verdient.
Nach dem
Tod seiner Mutter war Harrys Leben viel schwerer geworden. Der Schmied hatte
ihn aus dem Haus geworfen, und Harry hatte wie ein streunender Hund von den
Essensresten der Dorfbewohner gelebt.
Dann hatte
eines Tages Barrow, der Stallbursche einer sehr vornehmen Dame, ein Pferd zum
Beschlagen gebracht und dabei Harry hinter der Schmiede entdeckt. Der Junge war
voller blauer Flecken, halb verhungert und zitterte vor Angst und Kälte. Er
hatte ihn mit nach Hause genommen, sozusagen als Geschenk für Mrs Barrow. Die
kinderlose, mütterliche Frau hatte nur einen Blick auf Harry geworfen und ihn
dann sofort in ihr warmes Herz geschlossen.
Die Barrows
arbeiteten für Lady Gertrude, die unverheiratete, tyrannische Tante des Earls.
Die strenge Dame hatte Harry nur einmal angesehen und sofort die
Blutsverwandtschaft erkannt. Zusammen mit seinem Halbbruder Gabriel hatte sie
ihn zu einem Gentleman erzogen und ihn später in ihrem Testament bedacht.
Dennoch
vergaß Harry nie seine ersten schlimmen Lebensjahre ...
Er würde
sich niemals ein Mädchen vom Land zur Geliebten nehmen. Für ihn kam nur eine
Heirat infrage.
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