Anne Gracie
Schluck Wein.
Harry schenkte
ihm nach. Rafes älterer Bruder Lord Axebridge drängte ihn dazu, eine Erbin zu
heiraten. Rafes Bruder war glücklich verheiratet, aber seine Frau konnte keine
Kinder bekommen, also war es Rafes Pflicht als Erbe seines Bruders, Erben der
nächsten Generation in die Welt zu setzen – und bei dieser Gelegenheit die
Geldschatullen der Familie wieder aufzufüllen.
Der arme
Rafe hatte versucht, das Unvermeidliche hinauszuzögern,
seit er einigermaßen unbeschadet aus dem Krieg zurückgekehrt war. Ihm gefiel die
Rolle des Opferlamms nicht – jedenfalls nicht, wenn es dabei ums Heiraten ging.
„Kommt noch
jemand mit Gabriel und Callie?“, erkundigte Ethan sich schüchtern. „Die
beiden Jungs vielleicht?“
Harry las
weiter. „Ja, die Jungs, ein paar Mitglieder der Königlichen Wache von Zindaria
– ach ja, und Callies Freundin, Miss Tibby. Sie und Callie wollen einkaufen
gehen.“
„Das
erklärt alles“, bemerkte Luke. „Die Damen gehen immer gern einkaufen. Es
gibt wohl keine Geschäfte in Zindaria – nicht wie in London. Wann kommen
sie?“
„Im
Dezember“, erwiderte Harry. „Sie bleiben über Weihnachten.“
Er öffnete
den zweiten Brief, las ihn, schluckte und griff nach seinem Weinglas.
„Von wem
ist er?“, fragte Ethan neugierig.
„Von meiner
Tante Maude. Sie schreibt, sie hat ein paar sehr vielversprechende
Heiratskandidatinnen für mich aufgetrieben. Ich soll nächste Woche nach Bath
kommen und sie kennenlernen.“
5. Kapitel
un komm schon, Harry“, sagte
Tante Maude. „Mach nicht so ein Theater – ich brauche doch nur einen starken
Arm, auf den ich mich stützen kann, wenn ich diesen schrecklich steilen Berg
bewältigen soll.“
„Es geht
bergab, aber soll ich dir vielleicht eine Sänfte besorgen?“ Harry wusste
ganz genau, was seine Tante von ihm wollte, und das war nicht unbedingt ein
starker Arm. Sie wollte seine Gesellschaft in der Trinkhalle.
Harry
verabscheute die Trinkhalle mit ihren Ritualen, dem Klatsch und dem widerwärtig
schmeckenden Heilwasser. Das Schlimmste aber war die Versammlung affektierter
alter Jungfern, die die Ankunft eines jungen Mannes in ihrer Mitte genauso
aufgeregt quittierten wie Hühner im Stall das Auftauchen des Fuchses.
Allerdings fühlte Harry sich überhaupt nicht wie ein Fuchs, unter ihren
begierigen Blicken kam er sich eher so vor wie ein besonders schmackhaftes
Stück Kuchen.
Und Tante
Maude wusste das ganz genau, verdammt. Sie fand das Ganze enorm unterhaltsam.
„Du würdest
doch einer gebrechlichen alten Frau nicht deine Hilfe verweigern, nicht
wahr?“, fragte sie mit kläglicher Stimme.
„Gebrechlich,
Tante Maude? Wer hat denn gestern auf dem Ball jeden einzelnen Tanz mitgetanzt?
“ Harry zog die Brauen hoch. „Das muss dann wohl eine andere gebrechliche
alte Frau gewesen sein.“
„Gerade
weil ich so viel getanzt habe, fühle ich mich heute Morgen so geschwächt“,
bemerkte sie würdevoll.
„Ach so,
das kommt vom Tanzen, ja? Ich dachte eher, es liegt am Champagner. Wie viele
Gläser waren es doch gleich?“, stichelte ihr respektloser Neffe.
Maude, Lady
Gosforth, fasste sich an den Kopf und erwiderte streng: „Ein Gentleman hätte
nicht mitgezählt.“
„Ich habe
auch nicht mitgezählt“, sagte Harry. „Ich habe den Überblick verloren.“
„Nun, wenn
du schon so vulgär sein musst, dieses Thema anzusprechen, dann verstehst du
vielleicht auch, warum ich so sehr auf die Heilkräfte des Wassers in der
Trinkhalle angewiesen bin. Und da ich gestern nur auf diesen Ball gegangen bin,
um dich bei deiner Suche nach einer Ehefrau zu unterstützen, ist es wohl das
Mindeste, dass du mich begleitest.“
Das war
eine glatte Lüge. Nicht mal eine Herde
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