Anne Gracie
den
Blick von ihm zu wenden, strich sie mit dem Finger über den tiefen Ausschnitt
ihres Kleides, in dem der Ansatz ihres üppigen Busens zu sehen war. In der
Kluft zwischen ihren Brüsten ruhte ein riesiger glitzernder Edelstein.
Tante Maude
murmelte etwas wenig Damenhaftes vor sich hin. „Wie diese Frau sich aufführt!
Sie ist mindestens vierzig, wenn nicht noch älter. Hast du etwa vergessen, was
man sich über sie erzählt?“
Harry
erinnerte sich vage an eine Geschichte über irgendeine furchtbare Frau, aber
seine Tante ärgerte sich über viele Leute. Außerdem redete sie sehr viel,
wahrscheinlich hatte er die Geschichte
gar nicht richtig mitbekommen. Nun wünschte er sich, er hätte besser zugehört.
„Hilf
meinem Gedächtnis auf die Sprünge“, bat er, den Blick fest auf den Boden
gerichtet.
„Sie heißt
Mrs Beasley. Sie ist eine reiche Witwe – man munkelt, ihr verstorbener Ehemann
sei Wurstfabrikant gewesen, aber sie verheimlicht ihre vulgäre Herkunft oder
versucht es zumindest. Dabei verrät sie sich jedes Mal, wenn sie den Mund
aufmacht!“ Tante Maude lachte abfällig.
„Und die,
die den Schal fallen gelassen hat?“, erkundigte Harry sich beiläufig. Er
spürte, dass seine Tante ihn anstarrte, aber er tat so, als bemerkte er es
nicht.
„Sie hat
ihn gar nicht fallen lassen.“ Tante Maudes Freundin Lady Lattimer beugte
sich vor. „Ich habe es genau gesehen. Diese Frau hat ihn absichtlich zu Boden
geworfen, um Lady Helen dumm dastehen zu lassen.“
Harry
verschränkte krampfhaft die Finger und zwang sich, nicht zu neugierig zu
klingen. „Lady Helen?“
Seine Tante
betrachtete ihn nachdenklich. „Ihre Gesellschaftsdame. Sie ist Lady Helen
Freymore, die Tochter des entehrten Earl of Denton – er hat seinen gesamten
Besitz verspielt und brachte sich dann angeblich um. Das Mädchen ist zu arm und
zu unscheinbar, um einen Ehemann abzubekommen. Ganz zu schweigen von dem
Skandal, den ihr Vater ausgelöst hat.“ Sie warf der rotgesichtigen Frau
einen verächtlichen Blick zu. „Was für ein garstiges Geschöpf! Sie genießt es
hemmungslos, die Tochter eines Earls herumkommandieren zu können, und sie
gönnt dem armen Kind nicht einen Moment Ruhe.“
„Wie hält
sie das nur aus?“, murmelte Harry.
Tante Maude
warf ihm erneut einen prüfenden Blick zu, antwortete jedoch mit sanfter
Stimme: „Noch hat niemand von uns mit ihr sprechen können – Madame Beasley
erlaubt es nicht, aber das Mädchen scheint recht entspannt damit
umzugehen.“
„Sie muss
ein schlichtes Gemüt sein“, vermutete Lady Lattimer. „Mrs Beasley setzt
sie mit jedem Wort herab, dennoch zuckt Lady Helen mit keiner Wimper. Sie
lächelt nur, und die Erniedrigungen scheinen von ihr abzuperlen wie Wasser vom
Gefieder einer Ente.“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine intelligente Frau
würde es sich gefallen lassen, von einer Rangniedrigeren so behandelt zu
werden.“
„Sie ist
überhaupt nicht schlicht“, entfuhr es Harry, doch dann bemerkte er die
aufmerksame Miene seiner Tante und beeilte sich hinzuzufügen, „zumindest wirkt
sie nicht so ... ich meine, nach dem, was ich bis jetzt gesehen habe ...“
Tante Maude
durchbohrte ihn jetzt fast mit ihren Blicken und sagte provozierend: „Nein,
natürlich nicht. Nach dem, was du bist jetzt gesehen hast.“
Harry
beachtete sie nicht weiter und sah sich in der Halle um. Er musste einen Ort
finden, an dem er sich allein mit Nell unterhalten konnte, ohne all diese
neugierigen Zuschauer.
„Ich
glaube, ihre finanzielle Lage ist verzweifelt“, fuhr Lady Lattimer
ungerührt fort. „Sie ist arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus.“
Harry hatte
zwei Türen im hinteren Teil der Halle entdeckt und
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