Anne Gracie
ballte. Wie konnte dieses Ungeheuer so
selbstgefällig und bequem dasitzen, während sie Nell durch die halbe Stadt
scheuchte?
„Wie hast
du sie kennengelernt?“
„Das
Anwesen, das ich gekauft habe, gehörte zum Besitz ihres Vaters“, erklärte
er. „Sie war dort, als ich es besichtigt habe.“ Er ließ die Tür nicht aus
den Augen. „Wo zum Teufel bleibt sie? Sie ist schon eine Ewigkeit fort.“
„Man
braucht zu Fuß zehn Minuten bis zum Haus dieser Frau. Hab Geduld.“
Mit
finsterer Miene verschränkte er die Arme vor der Brust.
„Jetzt sieh
dich bloß mal an!“ Tante Maude schüttelte den Kopf. „Du hättest mir viel
Mühe erspart, wenn du mir gleich von ihr erzählt hättest, Harry.“
„Ich wusste
nicht, dass sie hier ist“, gestand er. „Sie sagte, sie würde nach London
gehen.“
„Warum bist
du dann nicht auch nach London gefahren, anstatt meine Zeit zu
vergeuden?“, fragte Tante Maude beinahe schroff.
Er zögerte.
„Weil sie mir bereits einen Korb gegeben hat.“
Tante Maude
ließ ihre Lorgnette fallen. „Wie bitte? Dieses Mädchen, diese unscheinbare
kleine alte Jungfer ohne Geld und ohne Freunde – hat dir einen Korb gegeben?
Und sich stattdessen für ein Leben mit Madame Beasley entschieden?“
Er
knirschte mit den Zähnen. Er fühlte sich auch nicht gerade geschmeichelt, vor
allem nicht, seit er gesehen hatte, für welche Alternative sie sich entschieden
hatte. Er erinnerte sich noch, wie sie davon gesprochen hatte, einer
liebenswürdigen alten Dame vorzulesen und mit ihr Tee zu trinken. Er
unterdrückte einen seiner unwürdigen
Anflug von Schadenfreude. Wie sehr sie sich geirrt hatte! Sie hätte sich doch
lieber für ihn entscheiden sollen.
„Was hast
du ihr getan?“
Harry
presste die Lippen aufeinander. Keine zehn Pferde konnten ihm diese Geschichte
entlocken. Seine Wangen begannen zu glühen, als er daran dachte, wie er die
Tochter eines Earls einfach in seine Arme gezogen und geküsst hatte, bis ihnen
beiden schwindelig geworden war. „Nichts, ich war absolut höflich“,
erwiderte er steif. „Ich habe ihr einen formvollendeten Antrag gemacht.“
„Und sie hat
dich abgewiesen.“ Seine Tante lachte leise. „Dieses Mädchen muss ich
kennenlernen“, erklärte sie. „In Lady Helen steckt doch wohl mehr, als man
vermutet.“
Nell
drückte den Schal
an ihre Brust und hastete die steile gepflasterte Straße hinauf, ohne auf die
erstaunten Blicke der Passanten zu achten. Der Schal war natürlich in keiner
Weise schmutzig, Mrs Beasley hatte nur einen Weg gesucht, die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen, aber, ach, wie froh Nell darüber gewesen war! Eine
Gelegenheit zur Flucht.
Sie
zitterte.
Was machte
Harry Morant in Bath? Noch dazu ausgerechnet in der Trinkhalle? Er konnte doch
unmöglich gewusst haben, dass sie ebenfalls dort war.
Der
Abstecher nach Bath war in letzter Minute eingeschoben worden. Mrs Beasley
hatte sich matt gefühlt, und ihr Arzt hatte ihr empfohlen, auf dem Weg nach
London in Bath haltzumachen und dort das Heilwasser zu trinken. Seit einer
Woche waren sie nun hier, und an diesem Morgen hatte Mrs Beasley verkündet,
dass sie am Montag nach London abreisen würden.
Noch zwei
Tage.
Aber Harry
Morant hatte sie gesehen, und seiner Miene nach zu urteilen, bestand kein
Zweifel daran, dass er sie nicht ignorieren würde. Sie hatte ihn die ganze
Zeit aus den Augenwinkeln heraus beobachtet, sobald er mit seiner Tante die
Trinkhalle betreten hatte.
Allen
weiblichen Anwesenden war ein wohlig erregter Schauer über den Rücken gelaufen,
und wer hätte das den Damen verübeln können? Er war ein so blendend aussehender
Mann, so groß und breitschultrig. So ... männlich.
Sie konnte
immer noch
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