Anne Gracie
erhob sich. „Entschuldigung,
Tante Maude, Lady Lattimer, ich muss nur eben ...“ Damit ging er davon, um
sich das Ganze etwas näher anzusehen.
Als er
zurückkehrte, war Lady Lattimer eingenickt und seine Tante sah ihn verärgert
an.
„Wenn ich
bedenke, wie viel Zeit ich mit all diesen anderen Mädchen vergeudet habe“,
murmelte sie und schlug Harry leicht auf den Arm, als er sich zu ihr setzte.
Langsam
schien das zur Gewohnheit zu werden. Er brachte seinen Arm
außer Reichweite. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Tante Maude
schnaubte. Harry reichte ihr sein Taschentuch. Sie starrte es kühl an. „Was
soll ich damit?“
„Den
Geräuschen nach, die du in den letzten Minuten von dir gegeben hast, scheinst
du eine Erkältung zu bekommen.“
Sie sah ihn
aufgebracht an und schnaubte erneut. Verstohlen lächelnd steckte Harry das
Taschentuch wieder ein.
Tante Maude
warf einen kurzen Blick auf ihre friedlich schlummernde Freundin und
flüsterte: „So, und seit wann kennst du nun Lady Helen?“
„Woher
weißt du Bescheid?“
Sie
betrachtete ihn spöttisch durch ihre Lorgnette. „Ach, verschone mich
– ich kenne dich seit deiner Kindheit. Außerdem war es offensichtlich. Ich
präsentiere dir fast ein Dutzend Mädchen, von denen du kaum Notiz nimmst. Jetzt
plötzlich erkundigst du dich scheinbar ganz beiläufig nach einer
Gesellschaftsdame, einem unscheinbaren, reizlosen Mädchen, von dem du kaum den
Blick wenden kannst. Und da soll ich dir glauben, dass du sie eben zum ersten
Mal gesehen hast?“
Er zuckte
die Achseln. „Ich habe sie vorher schon einmal gesehen.“
Seine Tante
schwieg eine Weile. „Es ist mehr als nur ein flüchtiges Interesse, nicht
wahr?“, sagte sie schließlich.
„Vielleicht“,
gab Harry zögernd zu.
Nein, nicht
vielleicht, das wurde ihm auf einmal klar. Es hatte ihn wie ein Schlag
getroffen, als er sie vorhin in der Halle entdeckt hatte. Es gab keine „passende
Braut“ für Harry; es gab nur Nell. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen
war; er wusste auch nicht, warum – er wusste nur, dass es so war.
„Du hast
mir gesagt, du möchtest ein Mädchen aus ehrbarer Familie, ein hübsches,
ruhiges, anständiges Mädchen aus der Mittelschicht, am liebsten eins mit einer
ordentlichen Mitgift.“
„Das ist
richtig.“
Seine Tante
hob frustriert die Hände. „Abgesehen davon, dass dieses Mädchen vollkommen
unscheinbar ist, hat es kein Geld, keine Beziehungen und noch dazu den Makel
eines Skandals. Lady Helens Vater hat alles verspielt und ist dann auf einer
Straßenkreuzung gestorben! Unter freiem Himmel, wo jeder ihn hätte finden
können. Geschmacklos.“
„Ja, er
hätte sich wirklich einen eleganteren Tod aussuchen können“, gab Harry ironisch
zurück. „Und sie ist nicht vollkommen unscheinbar“, ergänzte er gereizt.
Wahrscheinlich lag es an ihrer Kleidung. Tante Maude legte viel Wert darauf,
wie Leute sich kleideten. Er fuhr sich mit dem Finger in den zu engen Kragen.
„Wenn du über ihre düstere Kleidung hinwegsiehst, wirst du wahrscheinlich
erkennen, dass sie bezaubernd ist.“
Wieder sah
sie ihn eine ganze Weile schweigend an, dann zog sie die perfekt gezupften
Augenbrauen hoch. „Nein, nein, nein, dass ich das noch einmal erlebe ...“
„Was
erlebst du?“ Er schaute ungeduldig zur Tür. Wo blieb sie nur? Sie war
schon viel zu lange weg.
Tante Maude
tätschelte seine Wange. „Verliebt bis über beide Ohren bist du, mein
Junge.“
Verliebt?
Er starrte seine Tante an. „Unsinn“, murmelte er. „Ich bin nur ... besorgt
um ihr Wohlergehen.“ Und das stimmte sogar. Nell sah erschöpft aus, als
müsste sie viel zu hart arbeiten. Sie hatte noch immer Ringe unter den Augen
und dünner geworden war sie auch.
Er ertappte
sich dabei, wie er die Fäuste
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