Anne Gracie
nicht glauben, dass er ihr einen Antrag gemacht hatte.
Fast wäre
sie in Versuchung geraten – welcher Frau wäre es wohl nicht so ergangen? Aber
das war nur für einen kurzen Moment gewesen. Ihr blieb wirklich keine andere
Wahl, als nach London zu gehen. Sie musste Tone finden.
Und wenn
sie sie gefunden hatte, bestand für Nell nicht mehr die geringste Hoffnung auf
eine Heirat. Kein Gentleman würde eine Ehefrau mit einer unehelichen Tochter
akzeptieren, schon gar nicht, wenn sie keinerlei Vermögen hatte und unscheinbar
aussah.
Harry
Morant war ehrgeizig, ein Mann, der entschlossen war, es im Leben weit zu
bringen. Noch entscheidender – er war ein Mann, der versuchte, den Makel seiner
eigenen unehelichen Geburt zu überwinden.
Deshalb
hatte sie kein Interesse an ihm, sie durfte keines haben.
Sie war
sich ganz sicher, dass Torie irgendwo in London war. Papa war am Tag, nachdem
er ihr Baby entführt hatte, ums Leben gekommen. Und da das auf der Straße
geschehen war, die von London nach Hause führte, konnte er nur in der Stadt
gewesen sein.
Er war in
dem Dorf beerdigt worden, in dem er gestorben war. Sie hatte sein Pferd
verkauft, um die Bestattung bezahlen zu können, sie besaß nicht das Geld, um
ihn nach Hause überführen zu lassen. Sie hatte versucht, so viel wie möglich
über die Umstände seines Todes in Erfahrung zu bringen, aber niemand konnte ihr
Genaueres berichten.
Danach war
sie, so weit sie konnte, Richtung London gereist und hatte jeden befragt, der
ihr unterwegs begegnet war. Ein paar Leute hatten ihn gesehen, als er aus
London zurückkam, aber nicht einer davon erinnerte sich an ein Baby in einem
mit weißem Satin ausgelegten Korb.
Sie war auf
der Straße nach London geblieben und hatte Leute befragt, bis ihr das Geld
ausgegangen war und sie ihr eigenes Pferd hatte verkaufen müssen. Anschließend
war sie zu Fuß immer weiter gegangen, in der Gewissheit, schon im nächsten
Haus Neues über ihre Tochter zu erfahren – oder vielleicht im übernächsten. Schließlich
war sie so mittellos, unterkühlt und hungrig gewesen, dass ihr klar wurde: Sie
würde genau wie ihr Vater in einem Graben oder an einer Straßenkreuzung
sterben, wenn sie nicht aufpasste. Und was sollte dann aus Torie werden?
Also hatte
sie sich, statt sich weiter ihrer Verzweiflung hinzugeben, zurück nach Firmin
Court geschleppt. Sie musste nach Hause zurückkehren und sich ordentlich auf
ihre Suche vorbereiten ... Und dann hatte sie erfahren, dass sie kein Zuhause
mehr hatte.
Ihr Baby
war in London, irgendwo. Nell war fest entschlossen, es zu finden. Auf ihrer
Suche würde sie jeden einzelnen Stein umdrehen. Sie würde suchen bis zum
letzten Atemzug.
Sie war vor
Mrs Beasleys Quartier angekommen und eilte die Stufen empor, um einen anderen
Schal zu holen. Danach würde sie wieder in die Trinkhalle zurückkehren und sich
dem Blick seiner grauen Augen aussetzen müssen.
Sie hoffte,
dass er sich von ihr fernhalten würde, aber sie war diesbezüglich nicht sehr
zuversichtlich. Er war bereit, für einen Eklat zu sorgen, das spürte sie instinktiv.
Sie hatte gesehen, wie er vor Wut erstarrt war, als Mrs Beasley Nell wegen des
Schals gescholten hatte. Bestimmt wollte er sich wieder als ihr Ritter
aufspielen.
Und wenn er
das tat, würde sie dafür büßen müssen.
Mrs Beasley
liebte es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Bisher hatte sie stets
wie eine tugendhafte Ehefrau gelebt, jetzt wollte sie zu einer flotten Witwe
werden. Ihre Bösartigkeit störte Nell nicht im Geringsten. Es gab
Entschädigungen dafür. Solange sie wach war, kommandierte die Frau sie zwar
nach Strich und Faden herum, aber da sie niemals vor dem Mittag aufstand, war
Nell in den Stunden
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