Anne Gracie
seinem Blick wahrnahm, und presste
die Lippen aufeinander. „Also gut, wenn Sie so charakterlos sein wollen ...
aber nur für einen kurzen Augenblick.“
Er deutete
eine Verneigung an. „Wir sehen uns in zwei Minuten.“
Nell kehrte
zu ihrem Platz zurück und hoffte, dass man ihr ihren inneren Aufruhr nicht
ansehen konnte. Dieser verflixte Mann. Wenn sie sich nicht mit ihm traf, würde
er ihr Probleme bereiten.
Sie wollte
sich nicht mit ihm treffen. Schließlich hatten sie sich alles gesagt. Sie hatte
sich von ihm verabschiedet und war reisefertig. Warum machte er es ihr nur so
schwer?
Dieser
hartnäckige, unmögliche Mann! In ihrem bisherigen Leben hatte sie jeder Mann
auf die denkbar schlimmste Art und Weise enttäuscht. Glaubte er wirklich, sie
würde ihr Glück und ihre Zukunft – mehr noch, das Glück und die Zukunft ihrer
Tochter – in die Hände eines Menschen legen, den sie genau vier Mal gesehen
hatte?
Auch wenn
er der anziehendste Mann war, dem sie je begegnet war.
Papa war
freundlich, liebevoll und über alle Maßen charmant gewesen, trotzdem hatte er
Nells Leben zerstört. Und was er mit Torie gemacht hatte ...
Und Papa
hatte Nell geliebt.
Nicht ein
einziges Mal hatte Harry Morant das Wort „Liebe“ über die Lippen gebracht.
Sie hätte es ihm ohnehin nicht geglaubt, also war sie ganz froh darüber. Das
Letzte, was sie wollte, war, dass ein Mann wie er sich in sie verliebte. Das
wäre erst recht unmöglich gewesen.
„Nun?“,
fragte Mrs Beasley, als sie zurückkehrte.
„Er lässt
Ihnen sein Bedauern ausrichten, aber er hat gleich eine
Verabredung.“
„Hm.
Wahrscheinlich ist er deshalb zu einer so unattraktiven Uhrzeit
hier. Wie schade.“ Sie starrte quer durch die Halle zu ihm hinüber. „Was für
ein göttliches Exemplar von einem Mann.“
Und ein
ziemlich nervenaufreibendes, dachte Nell. An diesem Tag trug er glänzende
Stiefel, eine eng anliegende Reithose, die seine kraftvollen Oberschenkel
betonte, einen dunkelblauen Mantel und eine blaugrau gestreifte Weste, die
wunderbar zu seinen grauen
Augen passte.
Er sah
einfach viel zu gut aus und das wusste er auch ganz genau. Er
dachte sich wohl, sie brauchte ihn nur einmal anzusehen und schon
würde sie ihm um den Hals fallen.
Nun, sie
hatte wichtigere Dinge im Sinn, und sie würde niemandem um den
Hals fallen, auch nicht wenn er aussah wie Apoll. Mit braunem Haar. Und grauen
Augen. Und einem Lächeln, bei dem ihr
ganz anders wurde.
Der einzige
Mensch, auf den Nell sich jemals hatte verlassen können, war
sie selbst gewesen. Sie konnte kein noch komplizierteres Leben gebrauchen. Und
schon gar keinen gut aussehenden Charmeur.
Nein, danke.
Mrs Beasley
zuckte zusammen. „Was sollte das denn?“
„Was,
bitte?“, fragte Nell und kehrte abrupt in die Wirklichkeit
zurück.
„Sie haben
eben mit der Zunge geschnalzt.“
„Entschuldigung,
ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“
„Dann hören
Sie auf zu denken.“ Mrs Beasley trank sichtlich angewidert
von dem warmen Mineralwasser. „Schreckliches Zeug. Ich spüre zwar, dass es mir
guttut, aber Gott sei Dank ist das die letzte
Anwendung.“
Eine Weile
saßen sie schweigend da. Also gut, ich werde mich mit ihm
treffen, beschloss Nell. Und dann würde sie ihm gehörig ihre
Meinung sagen.
Sie
rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
„Um Himmels
willen, Mädchen, sitzen Sie still!“
„Ich kann
nicht“, gestand Nell. „Ich glaube, ich muss austreten. Vielleicht war es
das Essen gestern Abend ...“
Mrs Beasley
entließ sie mit einer geringschätzigen Handbewegung. „Nun, dann gehen Sie
schon. Ich hoffe nur, dass es Ihretwegen während der Reise nicht zu
Verzögerungen kommt. Ich warne Sie jetzt schon, das werde ich nicht
dulden.“
Nell eilte
zum
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