Anne Gracie
anderen Ende der Halle. Sie schlüpfte durch die mit Stoff bespannte Tür und
betrat die kleine Abstellkammer. Dort war niemand, doch schon nach wenigen
Sekunden erschien Harry Morant. Die Kammer fühlte sich plötzlich viel kleiner
an.
„Sie haben
wahrscheinlich gedacht, ich würde nicht kommen“, vermutete Nell. Er sah frisch
rasiert aus; sie konnte den schwachen Duft eines Rasierwassers wahrnehmen.
„Ich
wusste, dass Sie kommen.“ Um seine Augen bildeten sich leichte
Lachfältchen.
Dieses
triumphierende Lächeln ließ ihren Zorn erneut aufflackern. „Aber nur, weil Sie
mich erpresst haben!“ Sie stieß mit dem Finger an seine Brust. „Wie können
Sie es wagen, meine Existenzgrundlage in Gefahr zu bringen?“
„Existenzgrundlage!“
Er schnaubte. „Für diese alte Hexe zu arbeiten, ist doch keine
Existenzgrundlage.“
Sie hob
frustriert die Hände. „Das geht Sie nichts an. So, Sie verschwenden meine Zeit.
Innerhalb der nächsten Stunde brechen wir nach London auf.“
„Ich bringe
Sie nach London.“
Nell war
wie vom Donner gerührt. „Wie bitte?“
„Sie haben gehört, was ich gesagt
habe.“
Ihre Augen
wurden schmal. „Aber Sie wollen doch gar nicht nach London fahren. Sie hassen
London; Sie haben gesagt, Sie könnten dort nicht atmen.“
Er machte
eine ungeduldige Handbewegung. „Wollen Sie nun nach London fahren oder
nicht?“
„Ja, aber
...“
„Dann bringe
ich Sie hin.“
„Das geht
nicht. Es wäre ... unschicklich. Wenn ich mit Ihnen in London ankäme, würde
jeder denken, ich wäre Ihre ...“ Sie verstummte.
„Meine
...?“ Er zog eine Augenbraue hoch.
„Sie wissen
sehr gut, was ich meine“, gab sie zurück.
„Vielleicht.
Es wäre jedoch vollkommen schicklich, wenn Sie als meine Frau dort
ankämen“, sagte er. „Heiraten Sie mich, und ich bringe Sie nach
London.“
Nell fing
an zu zittern. Heiraten Sie mich, und ich bringe Sie nach London.
Er kam
einen Schritt näher. „Hören Sie, ich biete Ihnen zwar nicht den Inbegriff der
Romantik an, aber mein Angebot ist sinnvoll. Sie und ich begehren einander –
das wissen Sie. Ich brauche eine Ehefrau, Sie brauchen jemanden, der sich um
Sie kümmert. Und ich werde Sie nach London bringen.“
Sie
streckte die Hände aus und hielt ihn auf Abstand. Er machte keine Anstalten,
ihre Hände zu ergreifen, aber er wich auch nicht zurück. Seine Weste fühlte
sich glatt und seidig unter ihren Fingerspitzen an; Nell konnte seinen
gleichmäßigen, kräftigen Herzschlag spüren. Sie wollte ihre Hände wegziehen,
wusste jedoch, dass er ihr dann nur wieder näher kommen würde.
„Ich ...ich
sagte Ihnen doch, ich kann Sie nicht heiraten“, sagte sie mit
bebender Stimme. „Warum wollen Sie mir nicht zuhören?“
„Ihr Mund sagt das
eine ...“, seine Stimme wurde tiefer, „...aber wenn
ich Sie küsse, sagen Ihre Lippen etwas ganz anderes.“
„Das war ein
geraubter Kuss“, murmelte sie.
„Vielleicht,
doch Sie haben ihn erwidert. Sie haben sich an mich geschmiegt und Ihre Finger
in mein Haar geschoben“, raunte er beschwörend. „Sie haben sich meiner
Zunge nicht widersetzt.“
Sie wollte
verlegen abwinken und er nutzte das sofort aus. Plötzlich stand er wieder so
dicht vor ihr, dass sie die Wärme seines Körpers durch den braunen Stoff ihres
Reisekostüms spüren konnte, als wäre es aus hauchdünner Seide.
„Sie
begehren mich genauso wie ich Sie.“
Das tat
sie, Gott mochte ihr beistehen.
„Sie
arbeiten für diese Hexe, weil sie nach London fahren will. Das käme Ihnen
gelegen, sagten Sie. Heiraten Sie mich und Sie haben diesen
Vorteil und Sicherheit. Bis dass der Tod uns scheidet.“ Oh Gott,
warum musste er sich ausgerechnet so ausdrücken? Als ob er gewusst hätte, wie
sehr sie sich nach Sicherheit sehnte nach
siebenundzwanzig
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