Anne Gracie
Jahren unberechenbaren Zusammenlebens mit Papa.
Und sie
begehrte ihn. Welche Frau hätte das nicht? Das Rätsel war, warum er sie begehrte,
doch sie hinterfragte es nicht. In der Enge der Abstellkammer konnte sie das
Verlangen förmlich spüren, das sein Körper ausstrahlte.
Sie
schluckte. Und nun wollte er sie nach London bringen. Die Versuchung war
überwältigend. Wenn sie Ja sagte, konnte sie alles haben, was sie wollte ...
fast alles.
Doch um das
zu bekommen, würde sie lügen müssen. Oder zumindest die Wahrheit verschweigen.
Sie drehte
den Kopf von einer Seite zur anderen, um dem eindringlichen Blick dieser
grauen Augen zu entgehen, aber es war sinnlos.
Er hielt
sie für unschuldig. Sobald er über Torie Bescheid wusste, würde er einen
anderen Ton anschlagen, dessen war sie sich sicher.
Er liebte
sie nicht. Es bedurfte schon außergewöhnlicher Liebe, um eine Frau mit einem
unehelichen Kind zu heiraten – eines, das sie nicht weggeben oder verstecken
und für das sie sich nicht schämen wollte. Was geschehen war, war weder Tories
Schuld noch ihre.
Es bedurfte
großer Liebe ... oder vielleicht großer Gleichgültigkeit. In letzterem Fall
bot sich ihnen eventuell eine Chance ...
Sie öffnete
den Mund, um ihm alles zu erklären.
„So also
führen Sie sich auf!“ Mrs Beasley stürmte ins Zimmer. „Schleichen sich
hinter meinem Rücken davon, um in einer Abstellkammer Unzucht zu treiben! Um
neun Uhr morgens! Sie kleines Flittchen! Wie lange geht das schon so?“
„Ich habe
nicht ... Es ist nicht so, wie Sie denken ...“, stammelte Nell. „Mrs
Beasley, ich schwöre Ihnen ...“
„Lügen Sie
mich nicht an, Sie loses Frauenzimmer!“ Klatsch! Ihre Hand war
vorgeschnellt und hinterließ einen flammend roten Abdruck auf Nells Wange.
Außer sich
vor Zorn zog Harry Nell hinter sich. „Fassen Sie sie noch einmal an, Madam,
dann gnade Ihnen Gott. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Frau geschlagen,
aber dann werden Sie die erste sein!“
Mrs Beasley
warf nur einen Blick auf sein weißes Gesicht und seine
glitzernden Augen und wich hastig außer Reichweite. Sie sah Nell an und
beschimpfte sie mit lauter, gehässiger Stimme. „Ich habe schon immer gewusst,
dass Sie ein Flittchen sind! Seit ich Sie eingestellt habe, machen Sie den
Männern schöne Augen ...“
„Ruhe!“, fuhr Harry sie an. „Sprechen Sie
mit Lady Helen gefälligst in einem respektvollen Ton, sonst werden Sie die
Konsequenzen zu
spüren bekommen!“
Mrs Beasley
lief rot an und wandte sich an Nell. „Sie wissen, dass er ein Bastard ist,
nicht wahr, Lady Helen? Irgendein Lord hat es mit seiner schamlosen Dienstmagd
getrieben und sich einen Bastard
aufgeh...“
Klatsch! Diesmal war es
Nells Hand, die einen Abdruck auf Mrs Beasleys Wange hinterließ. „Wie können
Sie es wagen, so über ihn zu
reden!“
„Sie
kleines Miststück!“ Madame Beasley hob den Arm und wollte sich
auf Nell stürzen.
Harry
packte ihren Arm mitten in der Bewegung. „Das reicht.“
„Sie ist meine Angestellte, ich kann mit ihr machen, was ich will!“
„Nein,
Madam, sie ist meine Verlobte, und wenn Sie sie anfassen, drehe
ich Ihnen den Hals um.“
„Nehmen Sie
Ihre schmutzigen Hände weg, Sie sittenloser Bast...“
Nell wollte
wieder zu seiner Verteidigung eilen. Harry ließ Mrs Beasleys Arm los und
umfasste Nells Taille. Eingekesselt zwischen zwei wütenden Frauen, fiel ihm
nur eine Lösung ein. Er schwang Nell über seine Schulter und schob sich mit ihr
an ihrer keifenden, wütenden Arbeitgeberin vorbei. Ungeachtet Nells empörten
Protests trug er sie durch die Trinkhalle, in der alle verstummt waren und sie
anstarrten. Sein Hinken war auffälliger
denn je.
„Guten
Morgen, Ladies und Gentlemen“, wünschte er, als wäre es das Normalste
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