Anne Gracie
ihm immer ähnlicher, er war sein Ebenbild,
doch Vater ließ sich niemals erweichen. Er nannte ihn einen Bastard, bis zu dem
Tag, an dem er starb.“
„Das ist ja schrecklich“, flüsterte Nell
erstickt.
„Ich hatte
denselben Vater, aber meine Mutter war eine Bedienstete. Sobald sie merkte,
dass sie schwanger war, verheiratete er sie mit
dem Dorfschmied, und ich wurde ehelich geboren, zumindest dem Gesetz nach.
Aber Sie wissen ja, wie mich die Leute nennen.“ Er hatte ihr die Tränen
fortgewischt und hielt ihr nun das Taschentuch hin. „Putzen Sie sich die
Nase“, forderte er sie auf und sie gehorchte wie ein kleines Mädchen.
Sie war
völlig erschöpft.
Er steckte
das Taschentuch ein. „Nachdem wir nun alles geklärt haben, sollten Sie lieber
nach oben gehen. Waschen Sie sich das Gesicht und schlafen Sie erst einmal ein
paar Stunden. Ich wecke Sie zum Mittagessen, danach brechen wir nach London
auf.“
Sie konnte
nicht fassen, wie großmütig er war. „Eins verstehe ich nicht. Warum wollen Sie
jemanden wie mich, wenn Sie doch die freie Auswahl unter hübschen jungen
Mädchen haben, deren Vergangenheit keinen Makel aufweist?“
„Sie haben
es immer noch nicht begriffen?“
Sie
schüttelte ratlos den Kopf.
„Deswegen“,
erklärte er und küsste sie.
Es war kein
glühender, leidenschaftlicher Kuss, sondern ein schlichter, zärtlicher und
sanfter. Ein Versprechen, eine Beteuerung. Und das rührte sie zutiefst.
Harry ließ
sie los und trat einen Schritt zurück. Sie mussten jetzt ihr gemeinsames Leben
organisieren. Er läutete nach der Haushälterin seiner Tante und bat sie, Nell
nach oben zu begleiten. Hoffentlich beherzigte sie seinen Vorschlag, ein wenig
zu schlafen. Sie sah erschöpft aus. Dafür war zum Teil er selbst
verantwortlich, doch wenigstens konnte er nun dafür sorgen, dass man sich anständig
um sie kümmerte und sie nicht mehr sich selbst überlassen war.
Zwei
verdammte Monate!
Er zwang
sich, sich auf die vor ihm liegenden Aufgaben zu konzentrieren. Es gab viel zu
tun, wenn sie noch heute nach London fahren wollten. Normalerweise wäre er
dorthin geritten, aber für diese Reise wollte er eine Kutsche für sich und Nell
mieten. Er brauchte ein wenig Zweisamkeit mit ihr. Seine Tante würde ihnen in
ihrer eigenen Kutsche folgen, zusammen mit Bragge, ihrer Zofe. Bestimmt hatte
sie nichts dagegen.
Doch zuerst
musste er noch ein paar Briefe schreiben. Er holte eine Schreibunterlage von
der Anrichte, zusammen mit einer Feder, Tinte und mehreren Bögen Briefpapier.
Er spitzte
die Feder an, tauchte sie in die Tinte und starrte blicklos auf das weiße
Papier. Zu viele Fragen gingen ihm durch den Kopf.
Ein Kind.
Er musste zugeben, das war ein Schock gewesen. Mit so etwas hatte er nicht
gerechnet.
Wer zum
Teufel war der Vater? Warum wollte sie es ihm nicht verraten? Liebte sie ihn?
Dabei hatte sie sich eigentlich eher so angehört, als hasste sie ihn, aber er
wusste, wie schnell Liebe in Hass umschlagen konnte. Warum hatte sie dem Kerl
nichts von dem Kind
gesagt? Er musste bereits verheiratet sein, sonst hätte er doch gewiss Nell
geheiratet, oder?
Das finde
ich heraus, schwor er sich. Hauptsache, Nell hielt sich jetzt unter seinem Dach
auf. Unter dem seiner Tante, räumte er ein, aber das war wenigstens etwas. Er
würde nicht zulassen, dass sie noch einmal fortging.
Er musste
jetzt nur noch ihr Kind finden, sie heiraten und dann mit den beiden nach
Firmin Court zurückkehren. Dann würden sie eine richtige Familie sein. Er
tauchte die Feder noch einmal in die Tinte und fing an zu schreiben.
Zuerst
schrieb er Rafe und Luke und bat sie, sich mit ihm in London zu treffen. Die
beiden konnten helfen, nach Nells Baby zu suchen, anstatt sich auf dem Land
Rennen zu liefern und ihre verdammten Hälse zu
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