Anne Gracie
verkündete Harry. „Ich hoffe, du
begleitest uns, Tante Maude?“
Nell
verschüttete beinahe ihren Tee. Heute Nachmittag?
„Um nichts in
der Welt würde ich mir das entgehen lassen! Außerdem muss jemand mit dem armen
Kind einkaufen gehen – in diesen Kleidern kann sie nicht heiraten.“ Sie
bückte sich und küsste Nell warmherzig auf die Wange. „Willkommen in unserer Familie,
meine Liebe. Ich kann es kaum erwarten, Sie einzukleiden, wirklich!“ Sie
schwebte aus dem Zimmer und klatschte in die Hände. „Sprotton, rufen Sie das
Personal zusammen, wir fahren heute Nachmittag nach London. Wir müssen
packen.“
Nell zuckte
leicht zusammen und hielt den Atem an.
Harry sah
ihren Gesichtsausdruck und musste leise lachen. „Wenn sie einmal in Fahrt
kommt, ist sie wie ein Wirbelwind, nicht wahr?“
Nell nickte
und musste schlucken. „Sie ist sehr freundlich. Sie alle sind sehr freundlich.
Aber – ich kann Sie nicht heiraten.“
„Unsinn ...“
„Ich bin
nicht geeignet für eine Heirat.“
Er beugte
sich besorgt nach vorn. „Sind Sie krank?“
Einen
Moment lang war sie versucht Ja zu sagen, aber sie brachte es nicht über sich,
ihn anzulügen, nachdem er ihr gegenüber so offen gewesen war. „Nicht krank.
Ich bin moralisch ungeeignet.“
Er runzelte
die Stirn. „Sie meinen, Sie sind nicht mehr unschuldig?“
„So ist es,
das bin ich nicht. Ganz und gar nicht.“
Er lehnte
sich achselzuckend zurück. „Wer ist das schon in unserem
Alter? Ich bin auch kein Ausbund an Tugendhaftigkeit.“
„Es ist schlimmer
als das. Ich hatte ein Baby. Eine Tochter.“ Er zuckte zusammen und sagte
eine ganze Weile gar nichts.
„Wer ist
der Vater?“, fragte er schließlich.
Sie
schüttelte den Kopf. „Das spielt keine Rolle.“
„Doch, das
tut es.“
Sie reckte
trotzig das Kinn vor. „Ich werde es Ihnen nicht verraten. Meine Tochter hat
nichts zu tun mit ihm.“ Das letzte Wort stieß sie beinahe
hasserfüllt hervor.
„Sie
meinen, er erkennt sie nicht an?“
„Nein.“
Sie hielt seinem Blick unerschrocken stand. „Sie können mich fragen, bis Sie
schwarz sind, aber ich werde es nie einer Menschenseele verraten.“
„Nicht
einmal Ihrer Tochter?“
„Ihr erst
recht nicht.“ Sie sah ihm an, dass ihm das nicht gefiel. Zu schade, sie
würde ihre Meinung nicht ändern.
Ein
grimmiger Ausdruck lag in seinen Augen, seine Stimme klang jedoch sanft. „Wo
ist das Baby jetzt?“
„Ich weiß
es nicht. Ich habe es verloren.“
„Verloren?
Sie meinen ... ach, das tut mir leid.“
„Nein!“,
widersprach sie hastig. „Nicht verloren im Sinne von ...“ Sie konnte
dieses Wort einfach nicht aussprechen. „Sie lebt, glaube ich – ich bete darum!
–, aber ich habe sie verloren, ich weiß nicht, wo sie ist. Papa hat sie
mir weggenommen, als ich schlief, und ehe ich herausfinden konnte, wohin er sie
gebracht hat, ist er gestorben. Ich glaube, sie ist irgendwo in London.“
Lange Zeit
schwieg er und machte ein nachdenkliches Gesicht. Er war schockiert, das war
ihr klar.
„Wie lange
ist es her, seit Sie sie zur Welt gebracht haben?“ Sie starrte ihn an. Das
war eine merkwürdige Frage. „Etwas über zwei Monate.“
Er runzelte
die Stirn. „Zwei Monate? Und als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, reisten
Sie allein und schutzlos hinten auf einem Fuhrwerk!“ Er klang zornig. „Verdammt,
Sie ... Jemand muss besser auf Sie aufpassen! Zwei verdammte Monate!“
„Ich hatte
in dieser Angelegenheit keine Wahl“, erwiderte sie ruhig.
Sein Zorn
schien sich etwas zu legen. „Und jetzt wollen Sie anfangen, nach ihr zu
suchen?“
„Nein, so
lange habe ich natürlich nicht damit gewartet! Ich bin Papa sofort nachgereist,
aber er starb auf dem Rückweg von London. Ich habe ihn beerdigen lassen und bin
dann selbst weiter nach London gefahren. Ich habe überall nach
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