Anne in Windy Willows
heraus. Und es ist, als ob durch die Gitterstäbe hindurch ständig jemand auf mich einsticht. Während Sie von so viel Glück umgeben sind, dass Sie gar nicht wissen, wohin damit. Überall Freunde - und einen Mann, den Sie lieben! Nicht, dass ich Sie darum beneide, ich mag keine Männer. Aber wenn ich heute Nacht sterben würde, gäbe es niemanden, der mich vermissen würde. Wie würde es Ihnen gefallen, in einer Welt ohne Freunde zu leben?« Katherine brach wieder in Schluchzen aus.
»Katherine, Sie sagen immer, man soll offen zueinander sein. Dann bin ich jetzt offen und sage Ihnen, dass es Ihre eigene Schuld ist, wenn Sie keine Freunde haben. Ich wollte schon lange gerne mit Ihnen Freundschaft schließen. Aber Sie lassen ja niemanden an sich heran mit Ihrer Widerborstigkeit!« Anne strich sich erregt das wirre Haar aus dem Gesicht.
»Ja, ich weiß, ich weiß!«, gab Katherine zu. »Wie ich Sie gehasst habe, als ich Sie das erste Mal sah! Sie mit Ihrem Verlobungsring! Ich beneide Sie nicht um Ihren Verlobten, denn ich wollte sowieso nie heiraten. Aber ich hasste Sie, weil Sie meine Vorgesetzte wurden, obwohl Sie viel jünger sind als ich. Ich gönnte Ihnen den Ärger mit den Pringles. Sie schienen einfach alles zu haben, was ich nicht hatte - ein freundliches Wesen, Freunde, Jugend. Aber Sie haben ja kein Ahnung, was es heißt, von niemandem - absolut niemandem geliebt zu werden!« Das traf ins Schwarze!
»Soso, habe ich nicht?!«, rief Anne empört. In ein paar kurzen, scharfen Sätzen erzählte Anne, wie ihre Kindheit ausgesehen hatte, bevor sie nach Green Gables kam.
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Katherine betreten. »Es hätte alles geändert. Aber ich glaube, der eigentliche Grund, warum ich Sie hasste, war Ihre Lebensfreude; jeder neue Tag schien für Sie ein Erlebnis zu sein.« Sie stieß ihren Skistock heftig in den Boden.
»Katherine, bitte, versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht mehr hassen? Wir können doch jetzt Freunde sein«, bat Anne.
»Ich weiß es nicht«, zögerte die. »Ich habe noch nie einen Freund oder eine Freundin gehabt. Ich glaube, ich weiß noch nicht einmal, was Freundschaft ist. Nein, ich hasse Sie nicht mehr. Aber ich kann nicht einmal sagen, was ich für Sie empfinde ... Ich weiß nur, dass ich Ihnen gern von meinem Leben erzählen möchte. Ich möchte, dass Sie verstehen, warum ich so geworden bin.«
»Dann erzählen Sie, Katherine«, forderte Anne sie auf. »Ich möchte Sie gerne verstehen.« Beide setzten sich auf eine gefrorene Böschung.
»Sie wissen zwar selbst, wie es ist, wenn jemand einen nicht mag«, begann Katherine, »aber wie es ist, wenn die eigenen Eltern einen nicht mögen, das wissen Sie nicht. Meine Eltern hassten mich seit dem Tag meiner Geburt und sie hassten einander. Sie stritten sich unaufhörlich. Meine Kindheit war ein Alptraum. Beide starben, als ich sieben war, und dann kam ich in Onkel Henrys Familie. Die konnte mich genauso wenig leiden. Alle schauten dort auf mich herab, weil ich auf ihre Kosten lebte. Ich erinnere mich noch genau an die gemeinen Worte, Freundlichkeit habe ich nie kennen gelernt. Ich musste die zerschlissenen Kleider meiner Kusine auftragen, und dann machten sie sich über mich lustig, weil ich so komisch darin aussah.
Ich hätte so gerne einen Hund gehabt, aber sie erlaubten es mir nicht. Zum Glück war ich nicht dumm. Onkel Henry ließ mich deshalb schließlich aufs Queen’s College gehen, unter der Bedingung, dass ich ihm das Schulgeld und das Geld für die Unterkunft später zurückzahle. Ich hatte ein Zimmer in einer heruntergekommenen Pension, direkt über der Küche, wo es im Winter bitter kalt und im Sommer brütend heiß war und immer nach verdorbenem Essen stank. Aber dann habe ich die Prüfung bestanden und bekam die Stelle an der Summerside High-School - das einzige bisschen Glück, das ich je hatte. Seitdem spare ich mir jeden Bissen vom Munde ab, um Onkel Henry sein Geld zurückzuzahlen. Ich war fest entschlossen, so lange zu zahlen, bis ich ihm keinen Pfennig mehr schuldig wäre. Jetzt wissen Sie also, warum ich bei Mrs Dennis wohne und in schäbigen Kleidern herumlaufe. Doch nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich endlich alles abbezahlt habe. Das erste Mal im Leben bin ich wirklich frei. Aber ich habe mich in die falsche Richtung entwickelt. Ich weiß nicht richtig mit den Menschen umzugehen und sage immer das Falsche. Ich weiß, es ist meine eigene Schuld, wenn mich niemand bei gesellschaftlichen
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