Anonym - Briefe der Lust
„Ja.“
„Hübsch. Ich habe eine tolle Tasche, die wunderbar zu deinen Schuhen passen würde. Ich gehe rasch und hole sie.“
„Stella“, mischte mein Vater sich ein, „wir kommen zu spät.“
Stella warf ihm einen Blick zu, der ihm klarmachte, dass er sich nicht einzumischen hatte. „Also wirklich, Vince. Es sind nur zehn Minuten Fahrt. Lass mich nur schnell nach oben gehen und Paige die Tasche holen.“
Während sie die Treppe hinauflief, schickte mein Dad ihr einen liebevollen Blick hinterher. Er sah sie immer so an: nicht nur als wollte er ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen, sondern als würde es ihn auch glücklich machen, das zu tun. Wahrscheinlich war es auch so. Manchmal fragte ich mich, ob er meine Mutter jemals so angeschaut hatte.
„Wo sind die Jungs?“, fragte ich ihn.
Er machte eine Handbewegung in Richtung des Fernsehzimmers. „Da irgendwo.“
„Viel Spaß“, wünschte ich ihm, als Stella mit einer wirklich riesigen Handtasche zurückkam.
Sie überreichte sie mir mit einem strahlenden Lächeln. „Hier. Passt das nicht toll zusammen?“
Ich betrachtete erst meine spitz zulaufenden Stiefel und dann die Tasche. Beide waren schwarz, aber an diesem Punkt endete jegliche Ähnlichkeit, die ich entdecken konnte. Die Tasche hatte mehrere große goldfarbene Schnallen, und die Henkel waren mit Goldlamé-Rändern verziert. Überall hingen Troddeln herunter. Diese Tasche funkelte stärker als die Goldzähne in Flavor Flavs Mund.
Trotzdem bedankte ich mich bei ihr, aber sie zog die Tasche weg, als ich danach griff. Stella schüttelte den Kopf und betrachtete mich. Dann stellte sie die Tasche auf den Küchentisch. „Nein. Irgendwie ist das doch nichts für dich. Es entspricht nicht ganz deinem Stil, nicht wahr, Paige?“
Ich war zu überrascht, dass sie der Meinung war, ich hätte einen Stil, um auch nur zu widersprechen. „Nein. Nicht direkt.“
„Stella. Es ist Zeit.“ Mein Dad klopfte auf seine Armbanduhr.
Sie seufzte. „Na gut. Ich dachte, sie würde so hübsch zu den Stiefeln aussehen, aber ganz ehrlich, Paige, du hast einen sehr viel … schlichteren Stil.“
Das meinte sie nicht als Kompliment, aber ich lächelte dennoch. „Ihr macht euch besser auf den Weg.“
In einer Parfümwolke, untermalt von dem Klimpern ihres Schmucks, ließ sie sich schließlich von Dad mitziehen. Ich brachte die beiden zur Haustür, die ich hinter ihnen schloss. Erst als ich wieder in der Küche war, wurde mir etwas klar. Noch vor wenigen Monaten hätte ich Stella ihre Worte sehr übel genommen. Jetzt war es zwar nicht etwa so, dass es mir egal war. Es spielte nur einfach keine große Rolle.
An meiner Hüfte vibrierte mein Telefon, und ich zog es mit einem Lächeln hervor.
Habe gerade geduscht und esse jetzt ein Truthahn-Sandwich. Danach werde ich mir eine DVD ansehen. Ich bin an einem Samstagabend allein.
Vielleicht erwartete er eine Antwort, aber ich hatte nicht vor, ihm zu schreiben. Also schob ich mein Handy zurück in die Tasche und wandte meine Aufmerksamkeit meinem eigenen Abendessen zu.
„Paige!“ Tyler hüpfte um die Ecke, als ich gerade die Backofentür öffnete und die Pizza herauszog, deren Käse bereits viel zu dunkel war. „Rate mal!“
Ich legte die Pizza auf einen der speziellen Marmorteller, die Stella in Italien bestellt hatte, als sie die Küche hatten renovieren lassen. „Was?“
„Ich bin bei Windago Diamond schon im 17. Level! Komm gucken!“ Tyler zog an meiner Hand, die immer noch im Topfhandschuh steckte.
„Gleich, Ty.“ Gemeinsam betrachteten wir die Pizza.
Er verzog das Gesicht. „Müssen wir das essen?“
„Ich dachte, ihr mögt Pizza.“
Er beugte sich vor. „Aber sie ist angebrannt.“
„Sieht so aus. Tut mir leid, aber das hat uns deine Mom zum Abendessen vorbereitet.“
Er seufzte und stützte sich auf den Küchentresen. „Kann ich Erdnussbutter und Marmelade haben?“
Wow. Wenn dieses Kind die Pizza zugunsten von Marmeladenbrot verschmähte, war das wirklich bedenklich. „Wie wär’s, wenn ich euch Jungs ausführe? Wollt ihr gern zu ‚Jungle Java‘, oder sollen wir lieber irgendwo anders hingehen?“
Bei „Jungle Java“ gab es überteuerte Pizza, die auch nicht viel besser war als die, die Stella in den Ofen geschoben hatte. Aber wenigstens würde sie nicht verbrannt sein. Und natürlich war mein Vorschlag auch ein bisschen egoistisch. Solange die Jungs wie die Wilden auf den Spielplätzen und in den Erlebniswelten herumtobten, konnte
Weitere Kostenlose Bücher