Anonym - Briefe der Lust
getan! Das heißt nicht, dass die Familie ihm über alles geht. Dass sie ihm wichtig ist!“
Ich hatte immer gedacht, dass Gretchen und Steven von allen Kindern meines Dads am meisten gelitten hatten. Durch den Seitensprung ihres Vaters war ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt worden. Meine Jugend war auch kein Zuckerschlecken gewesen, aber ich hatte es nie anders kennengelernt. Und Jeremy und Tyler waren von ihrer Geburt an wie Prinzen behandelt worden.
„Worüber machst du dir Sorgen?“, fragte ich ihn mit ruhiger Stimme. „Dass er es wieder tut?“
Er musste mir nicht mit Worten antworten. Ich streckte den Arm über den Küchentresen und nahm die Hand meines Halbbruders. In meiner Tasche vibrierte mein Handy, aber ich kümmerte mich nicht darum.
„Dein Dad liebt euch. Und er liebt eure Mom. Wie verrückt.“
Jeremy ließ zu, dass ich seine Hand hielt, aber er erwiderte nicht den Druck meiner Finger. „Hat er deine Mom geliebt, Paige?“
Ich gab seine Hand frei. „Ich weiß es nicht. Das geht nur die beiden etwas an.“
„Und das macht dich nicht wahnsinnig?“
Ich zuckte die Achseln. „Früher war es wohl mal so. Aber was kann ich dagegen tun? Inzwischen bin ich erwachsen, mein Kleiner. Ich muss mich um meinen eigenen Kram kümmern. Immerhin kenne ich meinen Dad, verstehst du? Das können nicht alle Kinder von sich behaupten.“
Endlich nickte er und wischte sich noch einmal mit dem schmutzigen, zerfetzten Papiertaschentuch über das Gesicht. „Trotzdem macht es mich total wütend.“
„Es ist okay, wütend zu sein. Vielleicht solltest du mit ihm darüber reden, anstatt in der Schule schlecht zu sein.“
Jeremy sah mich ratlos an. „Er würde Mom sagen, dass ich es weiß!“
Ich wies ihn nicht darauf hin, dass nicht nur unser Dad einen Fehler begangen hatte. Stella hatte genau gewusst, was sie tat – jedenfalls hatte ich das immer angenommen, denn sie war keine Frau, die irgendetwas unüberlegt tat. Ich tätschelte nur seine Hand und wusch mir meine eigenen Hände, bevor ich meine Limonade austrank.
Als wir hörten, wie sich das Garagentor öffnete, sprangen wir beide auf. Jeremy rannte die Treppe hoch, ohne dass ich ihn dazu auffordern musste, während ich seine Dose ins Spülbecken leerte und anschließend in den Mülleimer fürs Recycling stopfte. In dem Moment, in dem mein Dad und Stella das Haus betraten, war es oben bereits totenstill, und ich blätterte in irgendeinem Lifestyle-Magazin.
„Wie lief es?“ Stella kam geschäftig in die Küche und legte eine in Alufolie gewickelte Doggybag in den Kühlschrank. „Hast du unsere Nachricht abgehört? Bei der Wohltätigkeitsveranstaltung gab es nur winzige Häppchen, und wir waren dem Hungertod nahe, und weil du ja hier warst, nun, da haben wir beschlossen, uns ein nettes Essen zu gönnen.“
„Kein Problem. Ich war mit den Jungs bei ‚Jungle Java‘.“ Stella zog eine Braue hoch. „In dem billigen Laden?“ Mein Dad trat hinter ihr in die Küche und rülpste ausgiebig. „Was für ein billiger Laden?“
Stella rollte mit den Augen. „Paige war mit den Jungs bei ‚Jungle Java‘.“
„Tatsächlich?“ Er schaute auf die Uhr und gähnte. „Das existiert noch?“
Der nicht sonderlich subtile Fingerzeig kam bei mir an. „Ja. Sie sind oben, aber ich bin nicht sicher, ob sie schlafen.“
Stella seufzte. „Haben sie einen Haufen Spielzeugschrott mitgebracht?“
„Aber sicher.“ Ich grinste, dachte aber nicht daran, mich zu entschuldigen.
Sie warf mir einen prüfenden Blick zu und lächelte dann verhalten. „Ich gehe nach oben und sage ihnen gute Nacht. Fährst du jetzt gleich nach Hause, Paige?“
„Ja.“ Ich sah zu meinem Dad hinüber, der im Kühlschrank herumsuchte.
„Vince! Wir haben gerade gegessen!“
„Ich habe Durst“, erklärte er und hob eine Flasche mit edlem Mineralwasser hoch.
„Also dann, gute Nacht, Paige. Vielen Dank, dass du auf die Jungs aufgepasst hast.“
„Kein Problem.“
Mein Dad und ich sahen ihr hinterher, als sie die Treppe hinaufging. Ich dachte, er würde mich nach Jeremy fragen, weil das der Hauptgrund für mein Kommen gewesen war, doch das tat er nicht. Er trank sein Wasser in einem Zug aus und warf die leere Flasche in den Müll. Dann zog er seine Brieftasche hervor und gab mir einen Fünfzig-Dollar-Schein.
„Fürs Aufpassen“, erklärte er.
Das steife Papier rieb sich an meinen Fingerspitzen. „Ich brauche das nicht, Dad.“
„‚Jungle Java‘ ist nicht
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