Anonym - Briefe der Lust
beim ersten Lichtstrahl aus dem Bett zu springen und Toast zu machen. „Es ist zu früh, um mich anzurufen, Arty. Erinnerst du dich, was ich dir zu diesem Thema gesagt habe?“
„Kannst du nicht kommen und mir Pfannkuchen machen?“ Seine Kinderstimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Ich stellte ihn mir sitzend in seinem Spider-Man-Pyjama vor, die nackten Füße in der Luft baumelnd, weil seine Beine noch nicht auf den Boden reichten. „Bitte?“
Wenn ich meine Augen nicht aufmachte, konnte ich vielleicht wieder einschlafen. Ich wühlte mich tiefer unter meine weiche Decke. „Ich wohne nicht mehr gleich bei euch nebenan, Kumpel. Das habe ich dir gesagt. Ich habe dir erklärt, dass ich nicht mehr rasch vorbeikommen kann, wenn du anrufst.“
Stille.
„Aber ich vermisse dich“, sagte Arthur mit einem winzigen Stimmchen.
Ich seufzte. „Ich vermisse dich auch, Kumpel. Wie wär’s, wenn ich bald mal komme und wir dann zusammen ins Kino gehen?“
„Wann?“ Dieses Kind konnte lesen, seit es vier war, und mit fast sieben konnte er die Zeit von einer Analoguhr ablesen, eine Fähigkeit, die mich immer wieder erstaunte. Es gab kaum etwas, das ihm entging. „Heute?“
„Heute nicht, nein. Vielleicht irgendwann gegen Ende der Woche.“
„Wann? Wann?“
Ich konnte immer noch nicht klar denken und nannte einfach irgendeinen Tag. „Mittwoch?“
„Samstag. Sonntag. Montag. Dienstag. Mittwoch. Das ist eine ganze Woche!“
Er klang so entsetzt, dass ich mich für mein Lachen schämte. Außerdem tat mir beim Lachen der Kopf weh. „Nicht ganz. Fünf Tage.“
„Das ist zu lange!“ Arthurs Stimme schraubte sich so weit hinauf, dass sie in meinen empfindlichen Ohren schrillte.
„Am Dienstag gehst du zum Turnen, und am Montagabend habe ich eine Verabredung. Tut mir leid, Kumpel. Du musst bis Mittwoch warten. Außerdem“, fügte ich hinzu, um ihn seine Enttäuschung vergessen zu lassen, „kommt am Mittwoch der neue Power-Heroes-Film heraus. Wie wäre es damit?“
„Okay.“ Er klang nicht überzeugt, nur resigniert. „Aber ich habe jetzt Hunger, Paige.“
„Frühstücksflocken. Oder nimm dir einen Schokoriegel aus der Schublade.“
„Mama sagt, Riegel aus der Schublade gibt es erst nach dem Frühstück.“
„Liegen in der Schublade keine Müsliriegel?“ Ich unterdrückte ein weiteres Gähnen. Wenn ich nicht während der nächsten zehn Minuten weiterschlafen konnte, würde ich leicht ungehalten werden.
„Doooch …“ Selbst Arthur wusste, was ich mit dieser Frage bezweckte, aber er klang, als könne er sein Glück nicht fassen.
„Dann iss einen davon. Sie sind aus Müsli, stimmt’s?“ „Kann ich Mama sagen, du hast gesagt, dass ich das darf?“ „Sicher.“ Es würde nicht das erste Mal sein, dass sie mich anschrie, weil ich dem Kind etwas erlaubte, was bei ihr verboten war. Andererseits war sie die Frau, die mich in der sechsten Klasse mit hochhackigen Candie’s-Schuhen, die ich gebraucht gekauft hatte, in die Schule gehen ließ. Und als ich in der zehnten Klasse war, hatte sie mir mein erstes Päckchen Kondome gekauft. Als Mutter behandelte sie Arthur völlig anders als mich. „Und jetzt lass mich weiterschlafen, okay?“
„Okay. Tschüss, Paige.“
„Tschüss.“
„Ich hab dich lieb“, sagte mein kleiner Bruder, bevor ich auflegen konnte.
Es war nicht das erste Mal, dass er mir das sagte, aber plötzlich war die Erinnerung daran, wie er als Baby gerochen hatte, so stark, dass meine Augenlider aufklappten wie die Lamellen einer Jalousie. Wie weich seine Babyhaare über meine Lippen gestrichen waren, wenn ich seinen kleinen Kopf küsste, und wie sein Gewicht sich in meinen Armen und auf meinem Schoß angefühlt hatte. Ich erinnerte mich, wie ich ihn fest umschlungen hielt, während ich mir stundenlang irgendwelchen Schund im Fernsehen anschaute, nur weil er so klein und so süß war. Einfach nur, weil er mich liebte.
„Ich hab dich auch lieb, Kumpel. Wir sehen uns am Mittwoch, also in fünf Tagen.“ Da er die anmutige, lockere Art des zwischenmenschlichen Umgangs eines Siebenjährigen besaß, verabschiedete er sich nicht ein zweites Mal von mir, sondern legte einfach auf. Ich rammte das Telefon zurück in die Ladeschale und meinen Kopf wieder ins Kissen, aber der Schlaf war in weite Ferne gerückt, und es war aussichtslos, es zu versuchen.
Mit einem Stöhnen schaute ich auf die Uhr. Fast acht. Und ich war eingeschlafen … so um kurz vor sechs an diesem Morgen? Himmel. Eines
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