Anonym - Briefe der Lust
so abgefallen, dass ich nur noch verschwommen sah. Ich wollte mir nicht das ganze Gebäckstück auf einmal in den Mund schieben, aber ein gesittetes Häppchen würde nicht ausreichen, um den Mangel auf die Schnelle zu beheben.
Er schaute zu mir herüber, während ich mir den Zuckerguss von den Lippen leckte. Er lächelte. Den Kaffee auf dem halben Weg zum Mund, hielt ich inne und lächelte zurück.
Ich war mir sicher, dass er mir Hallo sagen würde, aber ohne die Unterstützung meiner Nimm-mich-Schuhe brachte er nur ein Grinsen zustande. Vielleicht erkannte er mich aber auch gar nicht als die Frau aus dem Fahrstuhl. Oder, was wahrscheinlicher war, es interessierte ihn nicht.
Er stand auf. Das Papier und den Stift hatte er schon in seine Tasche gesteckt, den Müll vom Tisch geräumt. Er zog sich ein kariertes Flanellhemd über, das ich vorher auf der Lehne seines Stuhls nicht bemerkt hatte, und schob sich den Riemen seiner Ledertasche über eine Schulter. Dann verließ er das „Morningstar Mocha“, ohne sich noch einmal umzusehen – was mir Gelegenheit bot, ihm hinterherzustarren, ohne dabei ertappt zu werden.
Neben dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, lag ein zerknüllter Zettel auf dem Boden. Nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, ob irgendjemand mich dabei beobachtete, wie ich herumschnüffelte, verließ ich meinen Stuhl und setzte mich auf den, den er soeben verlassen hatte. Die Sitzfläche konnte nicht mehr so warm von seinem Hintern sein, jedenfalls war es nicht möglich, dass ich es fühlte, aber ich bildete mir ein, Hitze zu spüren. Mir war klar, dass ich den Zettel nicht aufheben und vor mir auf der Tischplatte glattstreichen durfte. Vor allem wusste ich, dass ich ihn nicht lesen durfte.
Natürlich tat ich es trotzdem.
Mir offenbarten sich nicht die Geheimnisse des Universums. Ich erfuhr nicht einmal seinen Namen. Auf dem Blatt waren fast nur Kritzeleien, zwischen denen ein paar hingeschmierte Sätze standen, die ich zwar lesen konnte, aber nicht verstand. Ich hätte ein schlechtes Gewissen haben sollen, während ich den Zettel betrachtete, war aber nur enttäuscht. Was hatte ich erwartet? Eine handgeschriebene Autobiografie mit Erwähnung seines Bildungswegs, seiner beruflichen Karriere und den Kinderkrankheiten, die er durchgemacht hatte?
Während ich mein Frühstück beendete, strich ich dennoch das Blatt glatt und faltete es auf die halbe Größe. Dann noch einmal auf die Hälfte. Und wieder, bis ich schließlich einen Briefbogen von normaler Größe in ein handflächengroßes Geheimnis verwandelt hatte. Der Zettel ging mich nichts an. Ich hatte nicht das Recht, ihn zu behalten. In meiner Hand fühlte er sich schwer wie Blei an, und doch brachte ich es nicht über mich, ihn in den Abfallkorb zu werfen.
Später wünschte ich mir, ich wäre noch ein bisschen im Coffeeshop sitzen geblieben. Im Riverview Manor gab es keinen Türsteher, und die Leute am Empfang waren dafür zuständig, Lieferungen in Empfang zu nehmen und sich um auftretende Probleme zu kümmern, sie hielten jedoch niemanden davon ab, das Haus zu betreten. Im Gebäude gab es Sicherheitskameras im Fahrstuhl und in jedem Stockwerk, aber keine ernsthaften Vorkehrungen, zu verhindern, dass irgendeine beliebige Person, die herein wollte, auch hereinkam.
Ich war also nicht sehr erstaunt, als ich um die Ecke des Etagenflurs kam und Austin vor meiner Wohnungstür stehen sah. Ein Teil von mir wollte sich sofort umdrehen und fliehen. Stattdessen schob ich das Kinn vor und wünschte mir, ich hätte mir die Mühe gemacht, Make-up aufzulegen, obwohl er mich nun wirklich schon in weitaus schlimmerem Zustand gesehen hatte.
„Was machst du hier?“ Ich bückte mich, um die Einkaufsbeutel abzustellen, damit ich den Schlüssel aus meiner Handtasche nehmen konnte. Als ich mich wieder aufrichtete, sah Austin mir ins Gesicht und nicht auf den Hintern. Nun, das erstaunte mich.
„Du hast mich nicht zurückgerufen.“
Ich schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn aber nicht sofort herum. „Ich wollte sagen, was machst du hier ?“
„Ich habe deine Mom angerufen.“
Ich schloss meine Tür auf und öffnete sie, machte aber keinen Schritt in meine Wohnung. Stattdessen wandte ich mich um und schaute ihn an. Meine Irritation musste ganz deutlich in meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, denn er hielt seine Hände hoch, als würde er befürchten, dass ich ihn schlug.
„Meine Mutter hat dir gesagt, wo ich wohne?“, erkundigte ich mich
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