Anonym - Briefe der Lust
benutzt, um meine Schwächen und Stärken aufzuschreiben.
stolz
stur
unabhängig
klug
neugierig
entschlossen
gewissenhaft
Das war’s. Als Liste fühlte es sich nicht vollständig an, aber mehr fiel mir nicht ein. So viel zu den zehn Punkten, dachte ich, während ich Papier und Bleistift weglegte.
Und die eigentliche Frage war, was ich da eigentlich aufgeschrieben hatte. Die Schwächen oder die Stärken? Konnte eine Stärke nicht manchmal auch eine Schwäche sein und umgekehrt?
Ich warf noch einen Blick auf den Block. Die Nachricht hatte mich dazu gebracht, intensiv über mich nachzudenken, obwohl sie nicht für mich bestimmt gewesen war. Ich hoffte, die Person, an die der Brief wirklich gerichtet war, hatte mehr Glück bei der Erfüllung der Aufgabe.
6. KAPITEL
Gegen Mittag war ich mit meinen Einkäufen fertig. Ich hatte nur zwei kleine Tüten voll Lebensmittel besorgt, das absolute Minimum, um bis zum Zahltag durchzukommen. Die paar Dollar, die noch in meinem Portemonnaie steckten, hatte ich absichtlich übrig gelassen, und zwar aus einem einzigen Grund: Zwar brauchte ich nicht unbedingt einen großen Kaffee mit extra Sahne und eine gefüllte Zimtwecke, aber ich wollte beides.
Das „Morningstar Mocha“ lag in dem Gebäude direkt neben dem Riverview Manor und wimmelte vor Leuten, die nach einer Koffeindröhnung lechzten. Ein paar Jogger, warm verpackt gegen die Kälte, füllten ihre To-go-Becher an dem kleinen Regal in der Ecke, wo es Süßstoffpäckchen und kleine Behälter mit Kaffeesahne gab. Und in der anderen Ecke, meiner Ecke, auf dem Platz, wo ich mich normalerweise hinsetzte, weil es der kleinste Tisch war und ich meistens allein kam, saß mein Kumpel Mr Mystery, der Typ, der mich im Fahrstuhl mit den Augen gefickt hatte.
War das Schicksal? Oder Zufall? Er war nicht das einzige bekannte Gesicht hier. Ich erspähte ein paar andere Leute aus meinem Apartmenthaus, ein oder zwei von ihnen kamen wie ich regelmäßig hierher, und natürlich kannte ich das Mädchen hinter dem Tresen. Ihr Name war Brandy, und sie war nicht zu übersehen. Sie mahlte ihren Kaugummi zwischen den Zähnen wie ein Wiederkäuer.
Ich bemühte mich, ihn nicht anzustarren, während ich meinen Kaffee und mein Gebäck bestellte, doch als man mir die Sachen über den Tresen reichte, war er immer noch da. Er saß auch noch in der Ecke, während ich jede Menge Zucker und Sahne in meinen Kaffee rührte. Er trug ein weißes, langärmeliges Shirt unter einem schwarzen Tour-T-Shirt und dazu perfekt sitzende Jeans. Seine Haare sahen aus, als hätte er sie mit den gespreizten Fingern gekämmt oder wäre einfach so aus dem Bett gefallen.
Vor ihm stand ein großer Becher, aus dem es noch dampfte, und ein Teller mit den Resten eines Lachs-Bagels. Er starrte durchs Fenster hinaus auf die Straße, wo jetzt am Wochenende außer ein paar vereinzelten, gemächlich vorbeifahrenden Wagen nichts zu sehen war. Neben Becher und Teller lag ein Notizblock – weiß, nicht gelb – und in der linken Hand hielt er einen Kugelschreiber. Auf dem Boden ruhte, wie ein treuer Hund, eine abgenutzte Ledertasche.
Die indirekte Beleuchtung des Mocha hatte einen warmen Goldton, aber die helle Wintersonne fiel durchs Fenster direkt in sein Gesicht. Ich wollte ihn einfach nur anstarren und den Anblick seiner fein gemeißelten Züge genießen. Diese lässige Schönheit. Seine gekräuselten Mundwinkel, während er konzentriert auf seiner Unterlippe kaute. Die Linie seiner Brauen. Die Art, wie seine Finger fast zärtlich den Stift hielten.
Glücklicherweise starrte er immer noch aus dem Fenster und malte dabei abwesend auf dem Block herum, als mich zwei Männer in identischen Trainingsanzügen anrempelten. Kaffee und Zimtwecke fielen mir aus der Hand und verteilten sich auf einem Pärchen, das direkt vor mir an einem Tisch saß. Beide sahen aus, als hätten sie die vergangene Nacht durchgemacht.
Die Fitness-Zwillinge waren sehr freundlich. Sie kauften mir neuen Kaffee und neues Gebäck und besorgten auch den Partygängern frische Bagels, weil ihre von meinem verschütteten Kaffee durchweicht waren. Sie machten eine Menge Getue davon, als wollten sie aller Welt zeigen, was für großherzige Menschen sie waren. Aber immerhin waren sie so nett.
Ich wagte es nicht, einen Blick hinüber zu dem Mann am Fenster zu werfen, bevor der ganze Aufstand vorüber war. Als ich es endlich doch tat, verbrannte mir der frisch gefüllte Kaffeebecher die Hand, und mein Blutzucker war
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