Anonym - Briefe der Lust
Tages würde ich es diesem Kind heimzahlen, vielleicht wenn er ein Teenager war und morgens so lange schlafen wollte, wie es überhaupt nur ging … genau! Dann würde ich ihn wecken.
Unglücklicherweise würde es noch ziemlich lange dauern, bis ich mich rächen konnte, außerdem war ich immer noch wach. Ich streckte mich, richtete mich auf und wartete darauf, dass mein übersäuerter Magen anfing zu rumoren oder mein Kopf zu pochen begann, doch abgesehen von meinem nagenden Hunger fühlte ich mich gut. Jedenfalls bis ich das gedämpfte Piepen meines Handys hörte, das noch in meiner strassbesetzten Handtasche unter dem Berg meiner abgelegten Kleider lag. Ich musste unter meinen Steve-Madden-Pumps graben, um es zu finden.
Fünf verpasste Anrufe.
Fünf? Mist. Ich überprüfte die Nummern der Anrufer. Ich hatte auch Sprachnachrichten, aber ohne die Mailbox anzuwählen, konnte ich nicht herausfinden, wie viele es waren. Kira hatte mich gegen vier Uhr morgens angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Das konnte gut oder schlecht sein, je nachdem. Es gab auch einen alten Anruf von meiner Mutter, den ich nicht gelöscht hatte. Die anderen drei waren von Austin.
Dreimal Mist.
Die Sprachmitteilungen waren auch von ihm. Im Halbstundentakt. Die ersten beiden waren kurze „Wann meldest du dich endlich?“-Nachrichten. Die letzte war gegen Viertel nach sechs eingegangen, als ich bereits im Bett gelegen hatte. Als ich sie hörte, spürte ich, wie meine Lippen sich verkrampften.
„Sieh mal, ich weiß, dass ich mich dir gegenüber früher wie ein Arschloch verhalten habe.“ Es folgte ein fünfzehn Sekunden andauerndes, unbeholfenes Schweigen, nur unterbrochen vom leisen Geräusch seines Atems. „Es tut mir leid. Ich war einfach nur ein … Mistkerl, und es tut mir leid. Ruf mich an, okay? Bitte!“
Ein paar weitere stumme Sekunden, dann fügte er hinzu: „Bitte!“
Gibt es etwas, das gleichzeitig so lächerlich und erregend ist wie ein bettelnder Mann?
Ich brachte es nicht über mich, diese Nachricht zu löschen. Vorher wollte ich sie mir vielleicht noch zwanzig Mal oder so anhören. Vielleicht würde ich mir auch die Mitteilung „Es tut mir leid, ich bin ein Mistkerl – Austin Miller“ auf ein Geschirrtuch sticken und mir damit die Hände abwischen.
Es war das erste Mal, dass Austin sich jemals bei mir für etwas entschuldigt hatte. Ich war nicht sicher, ob diese Entschuldigung noch irgendeine Bedeutung hatte. Wohl nicht, nach so langer Zeit.
Ich löschte die Nachricht nicht, aber ich rief ihn auch nicht an. Stattdessen hievte ich meinen bedauernswerten Hintern aus dem Bett und stolperte ins Bad, wo ich so lange pinkelte, dass es sich anfühlte wie eine ganze Stunde. Dann putzte ich mir die Zähne und fasste meine Haare am Hinterkopf zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen.
Ich hätte gern weitergeschlafen, aber ich wusste leider nur zu genau, dass es mir nicht gelingen würde, wieder einzuschlafen. Ich war aufgestanden und musste mich dem Tag stellen. Mein Magen knurrte, und ich holte die letzten beiden Scheiben Weizenbrot aus dem Kühlschrank und steckte sie in meinen Toaster. Ich musste dringend Lebensmittel einkaufen. Dabei würde es sich in Anbetracht meiner knappen Finanzen ausschließlich um Dinge wie Thunfisch aus dem Sonderangebot und Instant-Nudelsuppen handeln, auf keinen Fall aber um Steaks und Hummer. Nun ja, das war nichts Neues. Schließlich war ich in dem Glauben aufgewachsen, abgepackter Scheibenkäse wäre eine Gourmetmahlzeit.
Während mein Toast bräunte, blätterte ich den Stapel Werbesendungen durch, die ich am Abend zuvor aus meinem Briefkasten geholt und mit in die Wohnung gebracht hatte. Ich schob ein paar Kataloge zur Seite, die an meinen Vormieter adressiert waren. Dabei dachte ich an den Brief, den ich gestern zwischen meiner Post gefunden hatte, an das teure Papier und die schöne Schrift. Wie hatte die Anweisung gelautet? Mach eine Liste mit deinen Schwächen und Stärken? Ich dachte darüber nach, während ich meinen trockenen Toast kaute, denn ich hatte weder Butter noch Marmelade.
Du wirst eine Liste mit zehn Punkten schreiben. Fünf Schwächen. Fünf Stärken.
Schicke sie unverzüglich …
Aus der Kramschublade neben dem Kühlschrank nahm ich einen gelben Notizblock und einen Bleistiftstummel, dessen Spitze kaum noch vorhanden war, weil ich damit so viele Listen geschrieben hatte. Vor allem To-do-Listen, aber auch Einkaufslisten. Aber ich hatte ihn noch nie
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