Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anonym - Briefe der Lust

Anonym - Briefe der Lust

Titel: Anonym - Briefe der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Hart
Vom Netzwerk:
vom Tisch aufstehen wollte, spürte ich einen scharfen Schmerz an der Rückseite meines Schenkels.
    Bei meinem Aufschrei fuhr Brenda zusammen. „Was? Was ist los?“
    Ich reckte meinen Kopf über meine Schulter und streckte meine Bein nach hinten weg wie eine Balletttänzerin, die eine komplizierte Position einnehmen wollte. Mein Rock endete kurz über den Knien, und ich sah eine Laufmasche, aber sonst nichts. „Irgendetwas hat mich gekratzt.“
    „Das ist der Stuhl“, bemerkte Brenda. „Er hat lauter Splitter.“
    Ich rieb die Stelle direkt über meiner Kniekehle, die immer noch brannte und stach. „Ich weiß nicht, ob der Splitter noch drinnen steckt oder nicht.“
    „Meine Pause ist zu Ende. Ich muss mich beeilen. Kommst du zurecht?“ Brenda stopfte ihre Abfälle in die Plastikbox, in der immer noch ein paar Salatblättchen klebten, und warf sie in den Mülleimer.
    „Sicher. Natürlich.“ Wie bei einem Bienenstich, war aus dem scharfen Schmerz ein dumpfes Pochen geworden, das mich weniger ärgerte als die Strumpfhose, die ich würde ersetzen müssen.
    Auf der Toilette betrachtete ich im Ganzkörperspiegel die Stelle, wo ich mich verletzt hatte, konnte aber nichts erkennen. Ich strich mit den Fingerspitzen über die Haut um den wunden Fleck herum, spürte aber keinen Splitter. Weil ich keine Zeit hatte, noch länger zu suchen, zog ich meine ruinierte Strumpfhose aus und ging zurück ins Büro.
    „Gerade noch rechtzeitig.“ Paul stand in der Tür zwischen seinem Büro und meinem eigenen engen Arbeitsplatz. „Ich fing an, mir Sorgen zu machen, Sie würden es nicht schaffen.“
    Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. „Man kann wohl kaum behaupten, dass ich dauernd zu spät komme.“
    „Oh, natürlich nicht.“ Er sah auf seine Uhr. „Kommen Sie. Es ist Zeit.“
    Ich bemühte mich, nicht mehr an Brendas Warnung zu denken. Dies war der beste Job, den ich jemals gehabt hatte, und wenn ich auch nie angenommen hatte, es sei der beste Job, den ich je kriegen würde, hatte ich dennoch keine Eile, ihn loszuwerden.
    Während der Telefonkonferenz war es meine Aufgabe, Notizen zu machen. Paul hatte nicht nur eine furchtbar unleserliche Handschrift, er tippte auch nach dem Adler-such-System. Während er sich in einen Sessel setzte, holte ich mein AlphaSmart Neo hervor, den tragbaren Schreibcomputer, den ich lieber benutzte als einen Notizblock und einen Stift. Paul konnte nur langsam schreiben, aber er war in der Lage, sehr, sehr schnell zu sprechen, und ich kam nur mit, wenn ich tippte.
    Ich begriff nicht die Hälfte von dem, worüber sie redeten. Gewinnspannen, Bilanzen, langfristige Finanzplanung. Ich war vollkommen ahnungslos, doch das störte mich nicht. Ich musste nicht verstehen, worüber sie sprachen, um es aufzuschreiben. Tatsächlich fand ich es besser, je weniger ich wusste, weil sich dann mein Verstand mit anderen Dingen beschäftigen konnte, während meine Finger ihre Aufgabe erledigten.
    Noch vor wenigen Jahren hätte man von mir erwartet, dass ich auf der Kante meines Stuhls hockte und den spitzen Bleistift über meinem Stenoblock schweben ließ, während ich wie wild Kürzel aufs Papier warf. Tippen war dagegen sehr viel einfacher. Ich hatte Stenografie in der Schule gelernt. Es war eine der Fertigkeiten, die sie immer noch meinten, unterrichten zu müssen, obwohl niemand sie brauchen würde. Meiner Meinung nach konnte das Klacken meiner Nägel auf der Tastatur das sinnliche Schrappen eines Bleistifts, der über das Papier gleitet, nicht ersetzen, aber Tippen ging so viel schneller. Und außerdem konnte ich das Dokument direkt in meinen Computer herunterladen, um es zu bearbeiten, was praktischer war, als alles wieder abschreiben zu müssen.
    Das Telefongespräch endete abrupt, jedenfalls schien es mir so. Ich überflog die letzten paar Sätze und stellte fest, dass ich tatsächlich die Verabschiedung getippt hatte, ohne darauf zu achten. Dem Himmel sei Dank für Multitasking.
    Seufzend lehnte Paul sich in seinem Sessel zurück. „So, das ist geschafft. Vielen Dank, Paige.“
    Brenda konnte sagen, was sie wollte. Paul war eigen, aber er war auch sehr höflich. „Gern geschehen.“
    Ich hatte beide Schuhsohlen fest auf den Boden gestellt und die Tastatur auf dem Schoß gehabt. Als ich mich nun bewegte, um aufzustehen, durchfuhr mich der scharfe Schmerz meines unsichtbaren Splitters so heftig, dass ich nach Luft schnappte. Mit einem dumpfen Laut landete das AlphaSmart auf dem dicken Teppich. Ich

Weitere Kostenlose Bücher