Anonym - Briefe der Lust
ich stieß mit dem Besteck klirrend gegen den Teller, und weil ich nicht riskieren wollte, mit der Suppe zu kleckern, legte ich den Löffel wieder hin. Von all den schrecklichen Momenten, die wir miteinander verbracht hatten, schaffte es dieser mit Leichtigkeit in die Top Ten. Es war sogar noch schlimmer als damals, nachdem er bemerkt hatte, dass ich angefangen hatte, einen BH zu tragen, und es stolz auf einer von Stellas Partys verkündete.
Natürlich wünschte er sich, ich möge sagen, es sei in Ordnung, und das machte es mir noch schwerer, zu antworten. Also starrte ich eine endlos lange Minute in meine Suppe und spürte dabei seinen Blick wie ein schweres Gewicht. Eigentlich wollte ich dafür sorgen, dass mein Dad sich gut fühlte, weil es dann leichter für mich war, mich ebenfalls gut zu fühlen. Aber am Ende sagte ich nichts, und mein Schweigen war eine deutlichere Antwort, als Worte es hätten sein können.
„Könntest du mal vorbeikommen?“, bat er, nachdem eine weitere halbe Minute zäh verstrichen war. „Jeremy hat dich immer gemocht, Paige. Er schaut zu dir auf wie zu einer …“
„Schwester?“ Ich hob den Kopf, schaute ihn an und hatte plötzlich Mitleid mit dem Mann, der die Hälfte der Verantwortung dafür trug, dass ich war, wie ich war.
„Du bist seine Schwester. Wir haben dir nie das Gefühl gegeben, es wäre nicht so.“
Er würde keine weiteren Entschuldigungen vorbringen, das sah ich ihm an. Ich war mir ziemlich sicher, dass er auch die erste nicht wirklich ernst gemeint hatte. Oberflächlich betrachtet wohl schon, aber sie kam nicht aus tiefster Seele. Nicht daher, wo es zählte.
„Ich kann vorbeikommen. Natürlich. Obwohl ich nicht sicher bin, was ich deiner Ansicht nach mit ihm anstellen soll.“
Der erleichterte Blick meines Dads wirkte aufrichtig.
„Sprich einfach mit ihm. Ich habe Steven gefragt, ob er kommen kann, aber er hat zu viel mit den Kindern zu tun. Ich wusste, wir können auf dich zählen.“
Wenigstens das war schmeichelhaft, und ich glaubte es ihm auch. „Sicher. Danke.“
„Toll.“ Nun schienen die Dinge wieder in Ordnung zu sein.
Mein Dad schlürfte seine Suppe und stürzte sich anschließend auf seinen Salat. Die restliche Mahlzeit über redete er von den Reisen, die sie für den Sommer planten. Sie wollten wieder in das Strandhaus fahren, das er vor ein paar Jahren gekauft hatte, aber auch zum Grand Canyon, wo sie eine Tour mit dem Floß machen wollten. Er lud mich ein, ins Strandhaus zu kommen, falls ich Zeit hätte, und ich sagte, ich würde es versuchen.
„Gut“, stellte mein Dad fest, als sei damit alles geklärt, was jemals zwischen uns gestanden hatte.
In gewisser Weise stimmte das auch. Ich war in einem winzigen Punkt ehrlich zu ihm gewesen, was noch nie zuvor passiert war. Wir verabschiedeten uns, und dieses Mal fühlte sich die Umarmung nicht so gezwungen an. Er tätschelte meinen Kopf und zog mich dann ein zweites Mal an sich.
„Du siehst deiner Mom so ähnlich“, erklärte mein Dad, und damit hatte er wohl recht. „Wie geht es ihr übrigens?“
„Gut.“ Sonst erkundigte er sich nie nach ihr, aber ich hatte nicht vor, eine große Sache daraus zu machen.
„Gut.“ Mein Dad zögerte. „Sag ihr … Bestell ihr Grüße von mir und richte ihr aus, ich hoffe, es geht ihr gut.“
„Klar, Dad. Das mache ich.“
Er betrachtete mein Auto. „Hast du einen neuen Wagen?“
Mit meinem Auto, einem silbergrauen Volvo, hatte ich bereits drei Umzüge und mehrere Reisen ans Meer gemacht, und er hatte mich sicher durch einige Winter gebracht. Es war das erste Auto, das ich jemals besessen hatte, und obwohl Austin gemeinsam mit mir den Ratenvertrag unterschrieben hatte, hatte er nie auch nur einen Cent beigesteuert. Als ich ihn gekauft hatte, war der Wagen viel zu groß und zu teuer für mich gewesen. Er bedeutete für mich vor allem Schulden, die ich abarbeiten musste.
„Nein. Immer noch dasselbe Auto.“
„Aha. Es sieht neu aus.“
Ich schaute meinen Wagen an. In letzter Zeit waren mir daran eigentlich nur die Kratzer und Beulen aufgefallen. „Nun, das ist es nicht.“
„Du hattest es schon, als du und Wie-hieß-er-gleich zusammen waren, stimmt’s?“
„Er hieß Austin. Ja.“
„Siehst du ihn noch?“
Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu. Im grellen Sonnenlicht erkannte ich an den Falten um seine Augen und seinen Mund, an seiner schlaffen Kinnpartie und dem grauen Schimmer in seinen Haaren sein Alter.
„Gelegentlich.
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