Anonym - Briefe der Lust
Warum?“
„Nur weil … verdammt. Du warst noch so jung. Ich hätte dich davon abhalten sollen, ihn zu heiraten.“
Trotz allem war er mein Dad, und ich liebte ihn. Ich glaube, meine spontane Umarmung überraschte ihn ebenso sehr wie mich selbst. „Ach Dad, du hättest mich nicht davon abbringen können.“
Er lachte. „Nein. So ist es wohl. Das kann man wirklich über dich sagen, Paige. Du wusstest immer ganz genau, was du wolltest und wie du es bekommen konntest, und du hast dich durch nichts in der Welt davon abbringen lassen.“
Seine Einschätzung versetzte mich in Erstaunen. Was sollte ich darauf erwidern? „Danke.“
„Ruf Stella an, machst du das? Besprich mit ihr, wann es gut passt, dass du bei uns vorbeikommst. Sie kennt die Termine des Jungen besser als ich. Wir laden dich zum Abendessen ein.“
„Ihr müsst mich nicht jedes Mal füttern, wenn ich bei euch auftauche.“
„Ich bin dein Dad“, erklärte er und stopfte einen Zwanzig-Dollar-Schein in meine Jackentasche, ehe ich auch nur bemerkt hatte, was er plante. „Ruf sie an. Wir sehen uns, mein Mädchen.“
Ich schaute ihm hinterher und wandte mich dann wieder meinem Auto zu, das ich nun mit anderen Augen betrachtete. Im Sonnenschein warfen die Fenster mein Spiegelbild zurück, und ich sah eine Frau, die sich durch nichts auf der Welt von ihren Plänen abbringen ließ und die ganz genau wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. So sah mein Vater mich, und plötzlich konnte auch ich mich so sehen.
20. KAPITEL
Es ist erstaunlich, wie sehr eine Kleinigkeit die Dinge verändern kann. Auf dem Rückweg ins Büro summte ich leise vor mich hin. Wenn man so etwas auch im wahren Leben täte, hätte ich getanzt und mit Glitter um mich geworfen, aber ich entschied mich lieber dafür, bei Starbucks anzuhalten und Paul einen Spätnachmittagskaffee und ein Stück Gebäck mitzubringen. Er würde es gebrauchen können.
Vor Anspannung hatte er seine Stirn in Falten gelegt, doch er nahm den Becher und die Tüte gnädig entgegen. „Vielen Dank, Paige.“
Fünf Minuten später, als ich bereits mit fliegenden Fingern auf meiner Tastatur herumtippte, hörte ich sein Telefon klingeln. Nach weiteren fünf Minuten vernahm ich ein dumpfes Geräusch und einen Fluch, dann hörte ich aus seinem privaten Waschraum das Rauschen von Wasser und noch mehr unterdrückte Flüche. Ich wartete, ob er nach mir rief, und als er es nicht tat, stand ich auf und ging ohne anzuklopfen in sein Büro.
Paul stand mitten im Zimmer und hatte die Hände voller durchnässter Papierhandtücher. Er hatte sie benutzt, um damit an den Kaffeeflecken herumzureiben, die gleichmäßig auf seinem weißen Hemd verteilt waren. Doch damit hatte er nichts erreicht, außer sie noch größer zu machen. Kleine Papierfetzen klebten am Stoff, was die Sache auch nicht besser machte. Je heftiger er rieb, umso schlimmer wurde es.
Während der ersten drei Tage, die ich für Kelly Printing gearbeitet hatte, war Paul nicht im Büro gewesen. Er hatte zu den drei Leuten gehört, die das Vorstellungsgespräch mit mir geführt und mich eingestellt hatten, aber ich hatte bis zu meinem Arbeitsantritt nicht gewusst, wer von ihnen mein Chef sein würde. Ich war davon ausgegangen, der dicke Stapel Anweisungen, der am ersten Tag auf meinem Schreibtisch lag, sollte mir den Anfang erleichtern. Inzwischen wusste ich es natürlich besser, aber wenn man zurückblickt, durchschaut man die Dinge immer leichter.
Am ersten Tag, an dem ich ihn tatsächlich im Büro angetroffen hatte, war sein Gesichtsausdruck genau derselbe gewesen wie jetzt. Das lag daran, dass er angenommen hatte, ich hätte nicht alles erledigt, was er mir aufgetragen hatte. Als ich ihm die fertiggestellten Aufgaben zeigte, beruhigte er sich schnell, und unsere tägliche Routine war rasch so geworden, wie sie jetzt ablief. Ich hatte den panischen Blick also bereits einmal gesehen, aber das war schon eine ganze Weile her.
„Aufhören.“ Ich musste nicht darüber nachdenken, was zu tun war. Automatisch nahm ich ihm die Papierhandtücher weg und warf sie in den Müll. Dann ging ich in den Waschraum, holte eine Handvoll trockener Handtücher und betupfte damit die nassen Stellen auf seinem Hemd. „Wie ist das passiert?“
„Ich habe meinen Kaffee verschüttet“, erklärte Paul überflüssigerweise.
„Das sehe ich.“ Mir war aber auch klar, dass mehr dahintersteckte. Ich trocknete die schlimmsten Stellen und wischte die meisten Papierkrümel
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